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Liberal und/oder konservativ?

(NZZ – WIRTSCHAFT – Samstag/Sonntag, 16./17. Oktober 1999, Seite 21)

Es ist Mode geworden, das in der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung übliche Links-Rechts-Schema als überholt zu taxieren. Unter dem Einfluss Tony Blairs und des Schröder/Blair-Papiers «Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten » sucht nicht nur die Sozialdemokratie, sondern suchen auch andere Parteien nach einer «neuen Mitte» und «dritten Wegen»; sie wollen den Weltanschauungen eine Absage erteilen und «pragmatisch» politisieren. Verfolgt man indessen die realpolitischen Wahlkämpfe, merkt man, dass das «Links-Rechts» noch immer seinen Dienst erfüllt – mindestens wenn es darum geht, die politischen Gegner oder die, die man dafür hält, zu diffamieren.

Richtig ist, dass der Liberalismus, verstanden als Philosophie einer offenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, seit je nicht in diese Kategorisierung passt. Richtig ist ferner, dass es noch andere politisch relevante Etikettierungen – oder Schubladisierungen? – gibt, etwa progressiv, liberal, konservativ, reaktionär, revolutionär, reformistisch, sozialistisch oder kommunistisch, um einige dieser weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriffe zu nennen. Richtig ist schliesslich, dass all diese Positionen und Tendenzen nicht an Parteigrenzen haltmachen. Es gibt beispielsweise Progressive und Konservative in allen Parteien, und fast jeder wird sich dabei ertappen, auch in sich selbst verschiedene solche Strömungen zu vereinen. So schwierig es daher ist, der schillernden Vieldeutigkeit des Begriffs Herr zu werden, ist es doch sinnvoll, sich um eine gewisse gedankliche Klarheit zu bemühen.

Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Suche nach dem Verbindenden und dem Trennenden zwischen Liberalismus und Konservativismus dar. Die Abgrenzung gegenüber dem Sozialismus war immer einfacher, und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Entwicklung eigenständiger Profile innerhalb des bürgerlichen Lagers zugleich wichtiger und schwieriger geworden. Drei grosse Denker dieses Jahrhunderts, Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke, die beide 1999 hundert Jahre alt geworden wären (NZZ 8. 5. 99 und 9./10. 10. 99), sowie der vier Jahre jüngere, 1987 verstorbene französische Sozialphilosoph Bertrand de Jouvenel bieten sich auf dieser Suche als Wegweiser an; sie haben dazu auch heute noch Gültiges gesagt.

Hayek hat in einem berühmten Aufsatz, «Why I am not a conservative», versucht, sein Verständnis der beiden Positionen darzulegen. Folgt man ihm, ist zunächst sicher die Einstellung zu Innovationen unterschiedlich, wenn auch nicht völlig gegensätzlich. Der Konservativismus zeichnet sich durch Angst vor dem Wandel aus, der Liberalismus dagegen durch das Vertrauen in die spontanen Kräfte der Erneuerung. Trotzdem ist auch für den Liberalismus das Hergebrachte als das, was sich in einem langen Evolutionsprozess bewährt hat, wertvoll. Das unterscheidet ihn vom revolutionären Konstruktivismus. Auch Liberale nehmen also die, die vor uns waren, ernst, aber gleichzeitig sind sie durch Offenheit für das Neue gekennzeichnet. Deshalb suchen sie nach Regeln friedlichen und freiwilligen Zusammenlebens, nicht aber nach bestimmten inhaltlichen Ergebnissen (etwa einer gleichmässigen Einkommensverteilung), die diese Regeln hervorbringen sollen. Sie haben denn auch nichts am Hut mit jenen Konservativen, die genau wissen, wie die ideale Gesellschaft aussehen soll, aber natürlich genausowenig mit den Strukturkonservativen, die alles Bestehende mit Klauen und Krallen verteidigen und zu übersteigertem Nationalismus sowie Agrar- und Gewerbeprotektionismus neigen.

Das Vertrauen in die Zukunft, das in der Offenheit für das Neue zum Ausdruck kommt, hat mit dem enormen Optimismus zu tun, der geradezu zum Wesen des Liberalismus zu gehören scheint. Das bedeutet keinen Verlust an Bodenhaftung, sondern lediglich eine Absage an die Resignation. Ein solcher Optimismus hat deshalb, um ein aktuelles Beispiel aus der schweizerischen Politik zu nehmen, nichts mit dem provokativen Utopismus zu tun, mit dem etwa eine SVP Steuererleichterungen fordert, die jenseits aller Realisierbarkeit scheinen, aber auch nichts mit dem mutlosen Pragmatismus der Steuerstopp-Initiative der FDP, die sich bei genauem Hinsehen ob der vielen Ausnahmen als blosse Steuerwachstumsbrems-Initiative entpuppt. Realistisch und zugleich doch von ambitiösem Optimismus getragen wäre ein moderates und etappiertes Steuersenkungsprogramm, das beispielsweise zeigte, wie innert fünf Jahren die Steuerbelastung um 5% gesenkt werden könnte.

Liberalismus tritt ferner zwar für Gradualismus ein, etwa in der ordnungspolitischen und sonstigen Erneuerung, und somit weder für ein totales Umkrempeln noch für eine völlige Blockade, aber dieses reformerische Vorwärtsschreiten schliesst es keineswegs aus, Nein zu sagen zu freiheitseinengenden Aspekten des Staates. Zu allem und jedem Nein zu sagen widerspricht liberalem Denken, Nein zu sagen zu noch mehr Steuerund Regulierungsstaat keineswegs. Hier unterscheidet sich der Liberale vom Konservativen, der staats- und autoritätsgläubiger ist und keine Beschränkung der Regierungsgewalt für nötig erachtet, solange diese nur von tüchtigen und ehrenwerten Männern und Frauen ausgeübt wird. Insofern war der plakative Slogan «Mehr Freiheit – weniger Staat», der später um die Forderung nach mehr Eigenverantwortung ergänzt wurde, nicht nur erfolgreich, sondern in der Tendenz auch richtig. Der Staatsrechtler Kurt Eichenberger hat, als er vor dreissig Jahren von einer «restaurativen Revolution» sprach, die das Staatliche reduzieren und in festere Grenzen zurückweisen sollte, genau dies zum Ausdruck gebracht: Auch der Liberale muss, wenn es um die Einengung von Freiräumen geht, bremsen und Nein sagen. Das mag konservativ erscheinen, ist es aber nicht.

Vielleicht den interessantesten Anknüpfungspunkt zwischen Konservativismus und Liberalismus bietet die Werte-Basis einer Gesellschaft. Libertäre Fundamentalisten dürften diesen Zusammenhang nicht sehen. Für die meisten Ökonomen aber ist klar – und Röpke hat dies geradezu exemplarisch herausgearbeitet –, dass eine liberale Ordnung in Politik und Wirtschaft letztlich nur den Raum schafft für die Moral, diese aber nur in begrenztem Umfang selbst erzeugen kann. Vielen Liberalen sind Tugenden wie Fairness, Ehrlichkeit, Achtung vor dem andern, Familiensinn, Selbstdisziplin, Gerechtigkeits- und Gemeinsinn oder Mut genauso wichtig wie den Konservativen, und sie versuchen, diesen nachzuleben. Nur werden Liberale die Allgemeingültigkeit der von ihnen verfochtenen Normen stets mit Selbstzweifel und Skepsis vertreten – es könnten ja auch andere Grenzziehungen zwischen Gut und Böse richtig sein. Und deshalb werden sie nicht versuchen, ihre Vorstellungen von Moral mittels Gesetz und sozialer Kontrolle durchzusetzen, sondern dafür sorgen, dass jeder nach seiner Fac¸on selig werden kann, solange er nicht in die Privatautonomie seiner Mitmenschen eingreift.

Was aber tun, wenn, wie dies de Jouvenel thematisiert hat, die gute Gesellschaft freier Individuen, die das Ziel jeglicher liberaler Politik ist, sich ohne verbindende Konventionen gegen den sozialistischen Leviathan auf Dauer nicht behaupten kann? Wenn die zunehmende Atomisierung und Individualisierung die Basis einer Gesellschaft, also das, was sie trägt und zusammenhält, unterspült? Wenn die freie Wirtschaft und Gesellschaft den Keim zu ihrer Zerstörung in sich trägt? Weil ein verengter Liberalismus darauf keine Antwort geben kann, sind so viele Liberale zugleich wertkonservativ. «Wer darüber die Nase rümpft und dahinter ‹Restauration› und ‹Reaktion› wittert» (Röpke), mag bedenken, dass mit dieser Verbindung zugleich eine gewisse Blutleere des Liberalismus aufgefangen werden kann. Die Menschen wollen von den Liberalen wissen, für welche Wertordnungen und welche Leitbilder sie eintreten. In seiner Rationalität und Regelorientierung überfordert der Liberalismus nämlich viele Menschen sowohl moralisch als auch vernunftmässig. Zudem besitzt Freiheit als einziger oder auch nur als oberster Wert gerade im gegenwärtigen historischen Kontext vermutlich relativ wenig Anziehungskraft. Trotz dieser Erkenntnis werden Liberale allerdings – und darin unterscheiden sie sich von den Konservativen – ihre individuellen Vorstellungen vom «guten» Menschen nicht mit Zwang irgendwelcher Art durchsetzen wollen. Sie werden sich lediglich für jene «gute» Ordnung einsetzen wollen, in der sich die Menschen freiwillig zu «guten» Menschen entwickeln und in der sie sich als solche verhalten können.

G.S.

NZZ Samstag/Sonntag, 16./17. Oktober 1999, Seite 21

English version: Liberal and/or Conservative?

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