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Recht auf Sezession

(NZZ – ÖKONOMISCHE LITERATUR – Samstag/Sonntag, 11./12. September 2004, Nr. 212, Seite 87)

Austrittsgedanken fördern innere Freiheit

Gy. Beim ersten Blick kann der Eindruck entstehen, Hauptthema des Buches sei das Sprengen von Strukturen, das Zerstören von Staaten, Organisationen oder Gemeinschaften. Die von den beiden Ökonomen Jürgen Backhaus und Detmar Doering unter dem Titel «The Political Economy of Secession» herausgegebene Sammlung von zehn klassischen und modernen Texten aus Philosophie, Politik und Ökonomie mutet eigenwillig an. Aus verschiedenen Perspektiven werden Ausstieg, Abspaltung oder Ausbruchsversuche beleuchtet. Wiederholt ist – auch aus naturrechtlicher Sicht – vom Recht auf Sezession die Rede.

Aufbauend, nicht zerstörerisch

Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass keineswegs das Zerstörerische im Vordergrund steht, im Gegenteil, es geht um die Suche nach sinnvollen Spielregeln, die stabile und friedliche Beziehungen versprechen, dabei aber die Freiheit des einzelnen Menschen nicht zu stark einengen. Eine Verfassung, die dem Recht zum Austritt Rechnung tragen muss, wird naturgemäss liberaler ausfallen als ein Vertrag, aus dem es kein Entrinnen gibt. Wenn es ein Recht auf Sezession gibt, wird die tonangebende Mehrheit eher bemüht sein, Minderheiten anständig zu behandeln, denn wer sich von einer Gruppe, einem Kollektiv, einem Staat zu stark vereinnahmt oder ausgenützt fühlt, kann «weggehen». Herbert Spencers (1820–1903) Text steht unter dem Titel «The right to ignore the state», und im Beitrag «Liberal foreign policy» von Ludwig von Mises (1881–1973) wird skizziert, dass sich individuelle Freiheit, freie Märkte, internationale Arbeitsteilung und friedliche Ordnung schlecht mit nationalistischen Staaten und deren territorialen Ansprüchen vertragen.

Mit Blick auf den Staatsaufbau kann das Recht auf Sezession zu Regeln führen, die den unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Verbundes mehr Freiheit lassen. Föderalismus, Subsidiarität und Freiwilligkeit prägen solche Lösungen, sie stehen allerdings immer in Gefahr, durch den Zentralismus erwürgt zu werden. Im Text von Jefferson Davis (1808–1889), dem ersten und einzigen Präsidenten der konföderierten Staaten von Amerika, wird unter dem Titel «The rise and fall of confederate government» die Spannung zwischen Austrittsmöglichkeit und Unterdrückung dargelegt. Und im gleichen Zusammenhang skizziert James M. Buchanan, Ökonomie-Nobelpreisträger 1986, in seinem Aufsatz die Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Zentralismus in Amerika und Europa

In der ersten Phase entsprach die amerikanische Verfassung seiner Ansicht nach einem freiwilligen Vertrag zwischen Partnern. Ein Recht auf Austritt war zwar nicht explizit formuliert, die Gründer hielten ein solches aber für selbstverständlich. Wichtiges Ziel der Verfassung war die Garantie freier Märkte innerhalb des expandierenden Amerika. Mit Blick auf die Aussenbeziehungen gingen die Interessen des protektionistischen Nordens und des auf Freihandel bedachten Südens (und Westens) mit der Zeit zu stark auseinander. Der Führertyp Abraham Lincoln wollte die Union erhalten und nahm lieber die Unterdrückung einer Sezession, also den Freiheitsverlust, in Kauf, als dass er unzufriedene Staaten hätte ziehen lassen. So wurde im Bürgerkrieg der Süden unterjocht, zugleich wurde auf alle Zeiten jegliche Austritts-Option der Gliedstaaten eliminiert; der Weg war frei für einen wachsenden Zentralstaat. Nach Buchanans Ansicht – die Herausgeber betonen diesen Gesichtspunkt ebenfalls – sollte man sich heute in Debatten über die EUVerfassung vor Augen halten, welch zentrale Bedeutung ein explizit formuliertes Sezessionsrecht als Mittel gegen den Zentralismus haben kann.


Jürgen G. Backhaus and Detmar Doering (Hrsg.): The Political Economy of Secession – A Source Book. Progress Foundation. Neue Zürcher Zeitung Publishing, Zürich 2004. 299 S.

NZZ 11./12. September 2004, Seite 87

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