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«Die Tragödie der Demokratie»


(Weltwoche)

Der amerikanische Ökonom Woody Brock über Donald Trump und Hillary Clinton, die Schwachstellen der Demokratie und warum das Bruttoinlandprodukt nicht zur Messung des Wohlstandes taugt.

Ökonom Brock: «Geht es mir heute besser als gestern?»

Von Beat Gygi, Florian Schwab und Hervé Le Cunff (Bild)

Am Schluss des Interviews mit dem amerikanischen Ökonomen und Chef des Beratungsinstituts Strategic Economic Decisions, Ho­race «Woody» Brock, hatten wir ein Blatt voller Grafiken in der Hand. Beim leidenschaftlichen Argumentieren hatte er Diagramme zu Hilfe genommen, um seine Worte zu illustrieren. Aber eigentlich hat er das nicht nötig. Wie sein Auftritt bei der Progress Foundation kürzlich in Zürich gezeigt hat, kann er komplexe Zusammenhänge durchaus einfach fassbar darlegen oder ihre Scheinkomplexität enttarnen. Im folgenden Gespräch macht er auch klar, woran die Debatte über Arm und Reich krankt.

Herr Brock, Sie sind mit der amerikanischen Politik und Wirtschaft bestens vertraut, Sie kennen die Clintons und die Trumps. Da möchten wir aus erster Hand wissen: Ist Donald Trump verrückt?

Ich glaube, er ist nicht verrückt. Ich sehe es so: Donald Trump ist liberal im amerikanischen Sinn, steht also Mitte-links, und er ist ein Geschäftsmann mit vielen guten Beziehungen, ein New Yorker. Viele denken, weil er verrückte Dinge sage, sei er verrückt. Aber ich vermute, dass er als Präsident ziemlich zurückhaltend wäre. Vielleicht ist er verrückt, vielleicht hat er mit seinen Auftritten auch einfach gratis eine Werbewirkung erzielt, die eine Milliarde Dollar wert ist.

Das tönt rational.

Das tönt sehr rational, aber noch viel wichtiger ist: Sogar wenn man Trump hasst und furchtbar findet, ist der zentrale Punkt im ganzen Wahlkampf der, dass die ganze Elite der Ost- und Westküste den Kontakt zu den mittleren Gebieten verloren hat. Im Mittleren Westen und in ähnlichen Regionen sind die Menschen sauer. Vierzig Jahre lang haben sie immer mehr Steuern bezahlt, und die Schulen wurden schlechter, die Welt wurde schlechter. ­China betrügt und hat den USA vier Millionen Jobs gestohlen – dies in krasser Verletzung der Regeln der Welthandelsorganisation.

China hat wirklich gestohlen?

Ja, und das US-Aussenministerium tat nichts, um die amerikanischen Arbeitnehmer zu schützen. Wenn also Trump sagt, man werde China in den Hintern treten, dann entspricht das dem Wunsch des amerikanischen Volkes. Auch wenn Trump mit Bemerkungen über Frauen und mit anderen Dummheiten aneckt, so haben die Amerikaner doch die Nase voll vom heutigen Zustand. Das Establishment hat die öffentliche Meinung völlig falsch eingeschätzt.

Warum denn? Sie selber verkehren ja in dieser Welt.

Ich habe kürzlich ein Buch dazu geschrieben: «American Gridlock». Die Politik in Washington ist blockiert, sie tut nichts, sie ist erstarrt im alten Links-rechts-Gezerre. Dringend nötig wäre nun eine Margaret Thatcher, die sagt: «Geht mir aus dem Weg!» Die normalen Leute sind so frus­triert, dass sie sich für Washington ein Erdbeben wünschen. Hillary Clinton kann das Wort Erdbeben nicht mal buchstabieren. Sie steht für das Establishment, sie wird völlig wirkungslos sein. Und wer mit 67 Jahren ­einen solchen Sozialismus vertritt, muss sich die Frage gefallen lassen: «Entschuldigung, was haben Sie geraucht?»

Warum merken intelligente Leute nicht, wenn sie den Kontakt zum Volk verlieren?

Wenn Sie in Harvard zum Lehren angestellt sind, werden Sie nicht entlassen, auch wenn dies gerechtfertigt wäre.

Ist denn die Demokratie nicht stark genug, um Regierungen so zu kontrollieren, dass sie im Sinne des Volkes handeln?

In Europa und auch in Amerika hat man ein riesiges Problem. In den 1880er Jahren hatte der deutsche Reichskanzler Bismarck die staatliche soziale Absicherung eingeführt, um die Sozialisten auf ihrem eigenen Terrain zu besiegen. Daraus ergaben sich zwei gravierende Folgen. Erstens wurde die ­Familie in ihrer umfassenden, verzweigten Form als soziales Netzwerk zerstört. Fünftausend Jahre lang war der Familienclan zuständig gewesen für die Absicherung im Alter und bei Krankheit; bei vierzig Kindern, Grosskindern und Verwandten war im Notfall immer jemand zur Stelle. Heute aber hat die normale Familie 1,3 Kinder, und sie ist in der Hand des Staates. Zweitens spielte die Abschaffung der Grossfamilie den Politikern in die Hände. In jeder Abstimmung werben sie um Stimmen, indem sie Wohltaten versprechen. Das ist die Tragödie der Demokratie: Die Politiker verpfänden die Zukunft, sie belasten die künftigen Generationen. In meinem Land haben sie für die nächsten fünfzig Jahre Leistungen versprochen, die das Vierfache eines jährlichen Bruttosozialprodukts ausmachen: Das sind ungedeckte Schulden.

Ist die Demokratie also zu schwach?

Sie braucht einen starken Rahmen. In der Schweiz gibt es zum Beispiel die Schuldenbremse. Selbst wenn man genug Stimmen erhielte, könnten Politiker die Zukunft ­einfach mit Hypotheken belasten. Solche durch die Verfassung festgelegten Grenzen sind nötig. Trump kann eben nicht einfach das Frauenstimmrecht aufheben, das ist ­verfassungsmässig nicht möglich. Aber auf vielen Gebieten fehlen solche Schranken.

Die Regulierung der Arbeits- und Produktenmärkte hängt ja auch mit der Gefälligkeitsdemokratie zusammen.

Vor allem die Europäer verstehen es offensichtlich noch nicht, wie wichtig bei raschem technologischem Wandel flexible Produkten- und Arbeitsmärkte sind. Heute wird ja praktisch jede Branche umgekrempelt. Die digitale Revolution bedeutet, dass wir laufend neue Jobs mit neuen Leuten besetzen müssen. Leute zu entlassen und anzustellen, muss deshalb leicht möglich sein. In den USA wurden vierzig Millionen Leute entlassen, aber die Arbeitslosenquote ist in dieser Zeit gesunken.

Es wird aber kritisiert, dass sich in den USA die unteren und mittleren Einkommensschichten seit Jahrzehnten finanziell nicht verbessert haben.

Klar, die Ungleichheit in der Vermögensverteilung wie auch in der Einkommensverteilung hat zugenommen. Aber das gilt für die herkömmlichen Messgrössen. Das kümmert den lieben Gott wenig, denn er ist moralischer als die Intellektuellen, er weiss, was für die Menschen wichtig ist: Viel wichtiger als Einkommen und Vermögen ist für sie der Konsum. Und die Verteilung des Konsums ist heute gleichmässiger denn je in der Ge­schichte der Menschheit. Die Rockefeller-Enkel ­besuchen die gleichen Kleiderläden und kaufen die gleichen Elektrogeräte wie die grosse Masse. Die Armen hungern nicht, sie sind nicht abgemagert, sie sind dick.

Ist das nicht gerade ein Zeichen der Armut?

Das ist eine Riesengeschichte. In den USA denken viele, die Politik tue nichts für die Armen. Aber der Vermögenszuwachs im ­untersten Drittel der Einkommensklassen während der vergangenen dreissig Jahre ist grösser als im reichsten Zehntel. Vierzig Millionen Menschen profitieren von food stamps oder tax credits, das sind bald einmal 40 000 Dollar Einkommen pro Jahr, steuerfrei. Das ist meiner Meinung nach zu viel.

Sie sind ja auch der Ansicht, dass man heute für sein Geld viel mehr erhält als vor dreissig Jahren.

Das ist eine andere Geschichte. Und diese Geschichte – Martin Feldstein schreibt ge­rade ein Buch darüber – besagt, dass die Daten zum Wirtschaftswachstum, aus dem sich die Produktivität ableitet, Unsinn sind. Die offiziellen Statistiken beruhen auf dem System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wie es Nobelpreisträger Simon Smith ­Kuznets 1928 entwickelt hat. Produktivitäts­wachstum heisst demnach: Wie viel mehr als im Vorjahr produziert ein Arbeiter in diesem Jahr? Es geht um Mengen oder Stück pro Person, aber das ist die frühere Welt. Damals mass man Weizen in Zentnern und Stahl in Tonnen. Es gab wenig neue ­Güter, keine Smartphones mit neuen Apps.

Man kann doch Mehrwert auch in Geld messen.

Sagen wir mal, ein Wissenschaftler erfindet ­eine Methode, mit der man mehr Pizzas herstellen kann. Eine Arbeitskraft kann dann mit dem gleichen Kapital jährlich zwei Prozent mehr Pizzas produzieren. Die Menge an Pizzas, die ich essen kann, steigt auch um zwei Prozent. Die Zunahme der Produktion entspricht genau der Zunahme im Lebensstandard. Heute ist das anders. Mit neuen Apps kann man ein Taxi plötzlich für den halben Preis doppelt so schnell bekommen. Da hilft auch die Messung in Geld nicht weiter.

Es geht uns also besser, als es die Statistiken anzeigen?

Es gibt eine einfache Testfrage: «Möchtest du zurück ins Leben, wie es vor dreissig Jahren war?» Die meisten Leute sagen nein; auch ich. Man kann noch genauer fragen: «Wie viel von deinem gegenwärtigen Einkommen würdest du aufgeben, wenn du das, was du heute ­konsumierst, eintauschen müsstest gegen das Konsumbündel, das du vor dreissig ­Jahren hattest?» Das heisst: Es gab keine Airbags, und es bestand somit Todesgefahr beim ­Autounfall, es gab kein Mittel gegen Leukämie, kein Thai-Essen, kein Handy, kein Internet, keine kostenlosen Apps und Naviga­tionskarten. Jeder Amerikaner würde sagen: «Bitte nicht!» Aber jeder Präsidentschaftskandidat sagt: «Es geht euch schlechter, weil eure Reallöhne sinken.» Sie berufen sich auf Statistiken, die uns aber egal sein können, weil sie nichts über die Qualität aussagen und weil das Wort Sozialprodukt nichts bedeutet. Das ist ja definiert als Preis mal Menge, und jetzt schauen Sie: Mein Smartphone bietet vier Millionen Apps, das ist die Menge, und deren Preis ist gleich null. Also wäre das ­Sozialprodukt gleich null.

Ist ein Preis von null nicht eine Wunsch­vorstellung?

Nein. Ich habe dieses Smartphone hier vor vier Jahren für 400 Dollar gekauft. Plötzlich gab mir der liebe Gott den Taxi-Dienst Uber. Am nächsten Tag gab er mir GPS-Karten. Ich bin ein viel reisender Geschäftsmann und würde über tausend Dollar im Monat dafür zahlen, aber die Apps kosten nichts. Geht es mir heute besser als gestern? Natürlich, aber das hat mit offiziellen Produktivitätsstatistiken rein gar nichts zu tun. Die Daten sind komplett falsch, die Menschheit ist besser dran, als man denkt.

Quelle: https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2016-26/interview/die-tragoedie-der-demokratie-die-weltwoche-ausgabe-262016.html

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