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Das ungebührliche Volk

(NZZ – MEINUNG 6 DEBATTE – Dienstag, 3. Januar 2017, Seite 8)

Schon Platon meinte, dass ein Staat nur dann gut regiert sei, wenn seine Lenkung in der Hand von Philosophen liege. Teile der heutigen politischen und intellektuellen Elite scheinen diesem Konzept zu folgen. Volksentscheiden, die ihnen nicht ins Konzept passen, begegnen sie mit beträchtlicher Arroganz. Ein gefährlicher Holzweg.
Gastkommentar von Gerhard Schwarz

Blenden wir zurück: 1848 eskaliert – nach Frankreich und Deutschland – auch in Österreich die Stimmung. In Wien gehen aufgebrachte Bürger auf die Strasse und demonstrieren für eine Einschränkung der Rechte des Herrschers. Sie dringen bis zur Hofburg vor. Als Kaiser Ferdinand I. die protestierende Menge sieht, fragt er den Fürsten Metternich: «Was machen denn die vielen Leut da? Die sind so laut.» Darauf Metternich: «Die machen eine Revolution, Majestät.» Worauf ihm der verdutzte Kaiser seine Verwunderung über den Volkszorn mit dem berühmt gewordenen Satz kundtut: «Ja dürfen’s denn des?»

Ähnlich reagieren heute viele Mächtige und Intellektuelle, die sich über das ungebührliche Volk empören. Am Tag nach Wahlen und Abstimmungen reiben sie sich konsterniert die Augen, wenn das Volk wieder einmal nicht «richtig» entschieden hat, und vergessen, dass das objektiv Richtige oft erst nach Jahrzehnten erkennbar wird.

Auch Kollektive irren

Beispiele für solches Staunen gibt es genug: die EWR-Abstimmung von 1992, die Masseneinwanderungsinitiative von 2014, das Brexit-Plebiszit im Vereinigten Königreich, die Ablehnung des Friedensplans in Kolumbien und die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Aber da Irren menschlich ist, können auch Kollektive irren. Es gibt jedoch keine Evidenz, dass die Mehrheit des Volkes öfter und gravierender irrt als die Eliten und jene, die sich zu den Eliten zählen.

Doch selbst wenn es nicht so wäre, wäre das kein Grund, sich in Richtung von Platons Philosophen- Staat zu entwickeln. Wenn man Intellektuelle und Publizisten liest oder hört, bekommt man den Eindruck, Platons Utopie wäre ihre Welt. Sie suchen als Reaktion auf solche Überraschungen die Fehler fast nur bei den «Anführern» der jeweiligen Kampagnen und jenen, die sich erfrecht haben, «falsch» zu stimmen. Da ist man nicht weit davon entfernt, die Demokratie einengen oder gar abschaffen zu wollen. Das kann aber nicht die Lösung sein. Die einzige Chance besteht darin, dass das politisch- intellektuelle Establishment lernt, mit der grossen Unzufriedenheit, die den Westen erfasst hat, vernünftig umzugehen. Dazu muss es eine kluge Balance zwischen Prinzipienfestigkeit und Verständnis für die Sorgen finden und einigen Versuchungen widerstehen.

«Postfaktisch» ist zu einem Schlüsselbegriff dieser Tage geworden. Er bringt zum Ausdruck, dass sich Lügen nicht gegen jene kehren, die sie verbreiten, und unterstellt dem Volk einen Mangel an Intelligenz. Wäre das Volk nicht so emotional, unaufgeklärt und tumb, würde es – so der Tenor – «richtig» stimmen und die Lügen nicht durchwinken.

Doch es ist nicht so, dass die einen fortschrittlich, weltoffen und human sind und die anderen uninformiert oder – noch schlimmer – unmenschlich. Zudem übersehen die Kritiker, dass es an der Urne nicht um Wahrheit oder Richtigkeit geht; es geht um Interessen und – legitime – Emotionen. Welche Anmassung zu meinen, man wisse heute, was sich längerfristig als richtig erweisen wird, und man wisse besser als die Betroffenen, was in deren Interesse liegt. Dass das Nein zum EWR falsch war, lässt sich jedenfalls kaum mehr mit jener Selbstgewissheit sagen, mit der Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz damals den Volksentscheid abkanzelte.

Ängste ernst nehmen

Und was wurde nicht gegen Richard Nixon und Ronald Reagan gewettert. 1969 hiess es in der «New York Times» vor der Inauguration Nixons, er werde die Welt in die Luft jagen, und zwölf Jahre später war dort zu lesen, Reagan werde ein Desaster anrichten und nach einer Amtszeit «like a disillusioned cowboy» nach Kalifornien zurückreiten. Zur Besserwisserei gesellt sich oft Arroganz, etwa wenn Hillary Clinton Trump-Wähler einen «erbärmlichen Haufen aus Sexisten, Rassisten und Homophoben» nennt oder wenn Anhänger der wählerstärksten Partei der Schweiz als xenophobe Opfer eines Rattenfängers dargestellt werden. Mit Beleidigungen der schweigenden Mehrheit gewinnt man keine Mehrheit.

Nicht wer an dieser Entwicklung «schuld» ist, sollte die Frage sein. Wichtiger wäre zu klären, wer dieses Auseinanderdriften stoppen soll.

Weil Aufgeklärte meinen, die Welt zu verstehen, nehmen sie die irrational wirkenden Sorgen der Bürger zu wenig ernst. Dieser Befund trifft auch auf die Zuwanderungspolitik der Schweiz zu. Wie hat man doch den Bürgern zu erklären versucht, dass von der Zuwanderung fast alle profitieren (was stimmt), dass Multikulti eine Bereicherung darstellt (was Ansichtssache ist), dass es nur auf die Qualität der Zuwanderer ankommt (was so nicht stimmt) und dass man die Zuwanderung besser kontrollieren werde (was praktisch nie stimmte).

Mit einem Mix aus Aufklärung und Beschwichtigung kann man die Sorgen nicht verscheuchen. Es genügt nicht, den Menschen zu sagen, ihre Angst sei unberechtigt, wie das Carolin Emcke, die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2016, tut. Angst ist ja «nur» ein diffuses Gefühl der Bedrohung und insofern immer unberechtigt. Aber es gibt Globalisierungs- und Zuwanderungsverlierer, und das weckt Abstiegsängste – auch bei jenen, die nichts zu fürchten haben. Von der Bagatellisierung der Ängste ist es nicht weit zur Missachtung des Volkswillens. Ein ehemaliger EUKommissar sagte mir einmal in Anwesenheit mehrerer ihm unbekannter Zuhörer: «Wissen Sie, was das Volk denkt, geht mir am A. . . vorbei.» In Grossbritannien versucht ein Teil der Brexit-Gegner, das Ja mit juristischen Finessen oder Verzögerungstaktik doch noch auszuhebeln. In Kolumbien hat sich das Parlament über das Verdikt an der Urne hinweggesetzt. Und in der Schweiz geht man bei der Masseneinwanderungsinitiative den gleichen Holzweg, an dessen Ende mehr Politikverdrossenheit stehen wird.

Der Hang zur Angstmacherei

Was Bundesrat und Parlament entschieden haben, stösst all jene vor den Kopf, die vor bald drei Jahren die Initiative aus Überzeugung unterstützt und zusammen mit jenen, die einfach ein Zeichen setzen wollten, eine knappe Mehrheit errungen haben. Wenn man mit dem Argument, man müsse einen Fehlentscheid korrigieren, die Verfassung missachtet, bleibt das kurzfristig zwar vielleicht ohne Folgen, kaum aber längerfristig.

Es wird das Vertrauen in die offizielle Politik weiter untergraben, es lädt zu einer Denkzettelabstimmung zu einem anderen Thema ein, in der man den «Eliten» ihre Eigenmächtigkeit heimzahlt, und es verleitet dazu, bei einer nächsten Vorlage unverantwortlich abzustimmen, nach dem Motto «Die Politik wird es ohnehin korrigieren». So unterminiert man die Demokratie und fördert das Wutbürgertum.

Wenn das Volk «falsch» entscheidet, schreien alle laut Populismus. Allerdings ist der Begriff kaum hilfreich. Erstens zieht er oft eine relativ enge Grenze der politischen Korrektheit und brandmarkt alles andere als inakzeptabel. Zweitens suggeriert er, nur die als populistisch diffamierten Bewegungen schwankten zwischen dem Schüren von Emotionen und dem opportunistischen Aufnehmen von Stimmungen an der Basis. Dabei entbehren die Untergangsszenarien, die vom politischen Establishment jeweils gezeichnet werden, wenn es um wichtige Entscheide geht, alle nicht der Übertreibung und der Angstmacherei. Deshalb ist die vielleicht wichtigste Botschaft etwa des Ja zum Brexit, dass es Alternativen gibt, die zwar Kosten haben, aber das Mantra der Politik – «There is no alternative» – Lügen strafen.

Drittens wird Populismus viel zu sehr mit «rechts» gleichgesetzt. Dabei ist etwa der oft mit Populismus gleichgesetzte Nationalismus ein wesentliches Element der Anti-TTIP-Kampagne in Deutschland und Österreich, die vor allem von Links-Grün befeuert wird. Aber solches wird weniger rasch geächtet als der Ruf nach «Wirtschaftsdemokratie », der Appell an den Neid mit 1:12 oder der Aufruf, mit Mindestlöhnen und Grundeinkommen ins ökonomische Paradies aufzubrechen.

In vielen Ländern beobachtet man derzeit eine Polarisierung zwischen politischer Korrektheit, Vernunft, Bereitschaft zur Verantwortung, aber auch Verweigerung der politischen Realität auf der einen sowie Respektlosigkeit, Emotionalität, Frustration und Verweigerung der wirtschaftlichen Realität auf der anderen Seite. Nicht wer an dieser Entwicklung «schuld» ist, sollte die Frage sein. Die entscheidende Frage lautet, wer dieses Auseinanderdriften stoppen soll. Die Antwort lautet: Das können nur die Verantwortungswilligen und Vernünftigen sein – wenn sie einsehen, dass Arroganz und Besserwisserei, Ausgrenzen und Austricksen die Spaltung nur noch vertiefen.

Der Graben zwischen denen, die sich in den Zirkeln der Macht eingerichtet bzw. sich mit ihnen arrangiert haben, und denen, die sich vernachlässigt, vergessen, benachteiligt und unverstanden fühlen, zählt zu den grössten Herausforderungen unserer Zeit. Um zu verhindern, dass unappetitliche politische Strömungen die Oberhand gewinnen, braucht es vonseiten der Vernunft eine Art Deeskalation, ein Ernstnehmen der Sorgen, ohne zu allem Ja zu sagen, Respekt auch für die andere Position (nicht aber für deren extremistische Übertreibung) sowie Festigkeit in den eigenen Prinzipien (ohne sie ins Unsinnige zu übertreiben).


Gerhard Schwarz ist freier Publizist. Er leitete den Think-Tank Avenir Suisse und zuvor lange Jahre das Wirtschaftsressort dieser Zeitung.

NZZ Dienstag, 3. Januar 2017, Seite 8

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