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Vergessene rote Linien

(NZZ – MEINUNG & DEBATTE – Montag, 9. April 2018, Seite 10)

Der Bundesrat versucht, mit dem Begriff der «roten Linien» Festigkeit gegenüber der EU zu signalisieren. Doch es scheint, dass er darunter Selbstverständlichkeiten ebenso wie Mogelpackungen subsumiert – und zentrale Elemente eines Vertrags auf Augenhöhe gar nicht anspricht.
Gastkommentar von Gerhard Schwarz und Rudolf Walser


Der Bundesrat hat Anfang März sein Verhandlungsmandat aus dem Jahre 2013 mit Blick auf die sogenannten institutionellen Fragen präzisiert und angepasst. Der materielle Teil der Anpassung betrifft die Streitbeilegung, die neu anstelle des bisherigen Modells mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf der Basis eines Schiedsgerichts erfolgen soll. Der formelle Teil betrifft die Sprache, indem neu von Marktzugangs- statt von Rahmenabkommen gesprochen wird. Solche Sprachakrobatik muss einen allerdings spätestens seit George Orwells brillanter negativer Utopie «1984» immer vorsichtig stimmen.

Schliesslich bekräftigt der Bundesrat seine «roten Linien»: die Beibehaltung der flankierenden Massnahmen und die Nichtübernahme der EU-Richtlinie zur Unionsbürgerschaft. Wenn man von «roten Linien» spricht, tönt das nach Festigkeit und klaren Vorstellungen. Das ist grundsätzlich erfreulich, zumal man in der Vergangenheit oft genug vom Bundesrat den Eindruck unangemessener Konzilianz gewann. Aber man muss natürlich immer fragen: Sind es die richtigen «roten Linien», gibt es noch wichtigere, und sind sie klar genug definiert? Nimmt man unser liberales Staats-, Rechts- und Wirtschaftsverständnis als Messlatte, gelangt man leider zu einer etwas anderen Priorisierung als der Bundesrat.

Die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Positionierung der Schweiz inmitten von Europa zwingt die Schweiz zu verlässlichen, vertrauensvollen, vertraglich klar und fair geregelten Beziehungen mit der EU. Die der Schweiz stark zum Nachteil gereichende, asymmetrische Guillotineklausel ist eines partnerschaftlichen Verhältnisses unwürdig. Sie ist Ausdruck einseitigen Misstrauens des Hegemonen gegenüber dem kleineren Partner und hat in einem auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Vertragsverhältnis keinen Platz. Wenn es eine Weiterentwicklung des Bilateralismus geben soll, muss diese Klausel daher fallen. Das gilt umso mehr, als die Guillotineklausel seinerzeit von übereifrigen Schweizer Diplomaten vorgeschlagen worden sein soll, die den von ihnen herbeigesehnten Beitritt der Schweiz zur EU forcieren wollten.

Ein Schiedsgericht zwischen souveränen Partnern verdient nur dann seinen Namen, wenn es paritätisch aufgebaut und für alle Streitfälle zuständig ist, wenn es abschliessend urteilt und wenn sein Urteilsspruch akzeptiert wird

Flankierender Kompromiss

Der schweizerische Staatsaufbau mit seinen drei funktionalen Ebenen und dem demokratischen Rechtsetzungsprozess sowie die globale Ausrichtung der Schweiz setzen dem Bilateralismus enge Grenzen hinsichtlich dynamischer Rechtsübernahme und Streitschlichtung. Deshalb pocht die Schweiz mit Blick auf die Weiterentwicklung von EU-Recht, das für die bilateralen Beziehungen relevant ist, mit Recht auf eine Opting-out-Klausel. Genauso berechtigt ist der Wunsch der EU, darauf mit angemessenen Ausgleichsmassnahmen reagieren zu können. Die Aufhebung des ganzen bilateralen Vertragswerks, wie sie derzeit aufgrund der Guillotineklausel möglich wäre, ist ohne Zweifel keine angemessene Reaktion auf ein Ausklinken aus Teilen des Gesamtpakets. Grundsätzlich kann aber sicher keine Vertragspartei allein über die Angemessenheit urteilen. Dieses Urteil einem Schiedsgericht zu überlassen, scheint sowohl fair als auch sinnvoll und entspricht internationalen Gepflogenheiten.

Sollte die vom Bundesrat für die Streitbeilegung angestrebte Lösung auf Basis eines unabhängigen Schiedsgerichts zum Tragen kommen, ist in jedem Fall darauf zu achten, dass, wo Schiedsgericht draufsteht, auch Schiedsgericht drin ist. Ein Schiedsgericht zwischen souveränen völkerrechtlichen Partnern verdient gemäss der internationalen handelspolitischen Praxis nur dann seinen Namen, wenn es paritätisch aufgebaut ist, für alle Streitfälle zwischen den Vertragsparteien zuständig ist, abschliessend urteilt und sein Urteilsspruch von beiden Seiten akzeptiert wird. Ein Schiedsgericht, das dem EuGH vorgelagert wäre, der in seiner Rechtsprechung «dem immer engeren Zusammenschluss» der EU verpflichtet ist, würde diesen Kriterien genauso wenig entsprechen wie eines, das nur sehr selektiv für Teile des Abkommens zuständig wäre.

Eine derartige Schiedsgerichtlösung würde die Schweiz auch aus der heutigen unkomfortablen Sandwichstellung befreien, die dadurch entsteht, dass die EU die Schweiz einmal als Binnenmarktteilnehmer behandelt («by participating in parts of EU internal markets and policies, Switzerland is not only engaging in a bilateral relation but becomes a participant in a multilateral project») und dann wieder nur als bilateralen Partner. Auf dieser Klaviatur weiss die EU munter zu spielen, wie die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Anflugregime des Flughafens Zürich zeigen.

Dass der Bundesrat das EU-Bürgerrecht unter die «roten Linien» subsumiert, ist zwar richtig, aber gleichzeitig für das Nicht-EU-Mitglied Schweiz so selbstverständlich, dass dessen Thematisierung eher nach einem innenpolitischen Verkaufsargument aussieht: Seht her, wir bleiben hart. Ebenso innenpolitisch motiviert dürfte das klare Festhalten an den flankierenden Massnahmen sein. Für die EU stellen sie nämlich, zumal wegen ihrer schikanösen Anwendung, eine anhaltende Quelle des Ärgers dar, wie zahlreiche Klagen aus dem süddeutschen Raum und Österreich belegen. Und der Schweiz schaden sie mehr, als sie nützen.

Sie schützen hauptsächlich ein relativ schmales Segment der Wirtschaft (Bau, Ausbaugewerbe), haben aber gravierende Nachteile für die ganze Volkswirtschaft. Sie behindern die Funktionsweise des Arbeitsmarktes, verursachen hohe Regulierungskosten, erschweren über Mindestlöhne die Integration von Berufseinsteigern, Niedrigqualifizierten und älteren Menschen in den Arbeitsmarkt und sind diskriminierend gegenüber jenem grossen Teil der Wirtschaft, der der globalen Konkurrenz schutzlos ausgesetzt ist. Mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz, einen flexiblen Arbeitsmarkt und eine liberale Ordnungspolitik müssten sie zurückgebaut werden. Man könnte dies aber auch erst nach einem Vertragsabschluss mit der EU und völlig autonom tun. Vorerst wird man dagegen – nicht aus liberaler Überzeugung, sondern mit dem Ziel einer breiten politischen Abstützung – wohl oder übel am Status quo festhalten müssen.

Gelassen und ausgewogen

Der Bundesrat verbindet seine Adjustierung leider auch mit einer schwer verständlichen Hast und vermittelt den Eindruck, ein rascher Abschluss sei nun dringend nötig. Das trifft in mehrfacher Hinsicht nicht zu – ganz abgesehen davon, dass eine offen deklarierte Eile und ein Zieldatum nur die eigene Verhandlungsposition schwächen.

Erstens wird heute auf der bestehenden Vertragsbasis jährlich ein Handelsvolumen von rund 240 Mrd. Franken (2016) so gut wie friktionslos abgewickelt. Zweitens ist beim Rahmenabkommen die EU «demandeur». Die Schweiz oder die europäische und die schweizerische Wirtschaft haben nie ein institutionelles Rahmenabkommen verlangt. Drittens gibt es zurzeit keine Themen, die dringend nach einem bilateralen Abkommen rufen, sieht man von dem unfreundlichen Akt der EU in Sachen Börsenäquivalenz ab, der zeigt, welche Seite hier Druck aufsetzt und offenbar in Eile ist. In diesem Zusammenhang würde es vermutlich helfen, wenn Politik und vor allem Verwaltung nicht ständig neue Anliegen, die bestenfalls «nice to have» sind, entwickelten. Viertens muss man kein Experte in Spieltheorie sein, um zu erkennen, dass Verhandlungen mit der EU vor dem Brexit der Schweiz nur zum Nachteil gereichen können. Die EU ist nämlich fast gezwungen, kleinlich zu sein, weil sie alles, was sie der Schweiz grosszügig gewährt, anständigerweise auch Grossbritannien zugestehen müsste.

Bedenkt man zudem, dass sich die EU ja in den nächsten Jahren auch reformieren und in eine Richtung bewegen könnte, die der Schweiz entgegenkommt, besteht erst recht kein Grund zu einem übereilten Vertragsabschluss.Wichtiger ist es, mit der EU wieder ein ausgewogenes Verhältnis auf Augenhöhe zu entwickeln, mit grosser Gelassenheit statt mit Aufgeregtheit, die Guillotineklausel endlich wegzubringen und eine Schiedsgerichtlösung zu finden, die diesen Namen verdient. Dafür darf man sich ruhig Zeit nehmen. Hingegen wäre eine schnelle Lösung, die ungleichgewichtig wäre und einen Etikettenschwindel darstellte, wirklich eine «rote Linie» – für alle Liberalen genauso wie für alle, die das politische System der Schweiz bei aller Reformbedürftigkeit doch für weniger schlecht halten als das der europäischen Partner und der EU.


Gerhard Schwarz ist Publizist und Präsident der Progress Foundation, zuvor war er Chef der NZZ-Wirtschaftsredaktion und Direktor von Avenir Suisse; Rudolf Walser war Chefökonom bei Economiesuisse und Senior Consultant bei Avenir Suisse.

NZZ 9. April 2018, Seite 10

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