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Zeitgeistige Ökonomie-Ethik

(NZZ – Wirtschaft – Dienstag, 16. November 2021, Seite 23)

Von Gerhard Schwarz

Der Verein für Socialpolitik in Berlin ist die wichtigste Vereinigung der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft. 1873 gegründet, zählt der Verein rund 4000 Mitglieder, unter ihnen manche Ökonominnen und Ökonomen aus der Schweiz und Österreich.

Im Gegensatz zu dem, was im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts angedacht war und was der Name suggeriert, ist der Verein nicht eine Gruppe von «Kathedersozialisten», die die Lage der unteren Klassen so verbessern möchten, dass der Marxsche Klassenkampf keine Chance hat. Vielmehr handelt es sich um eine Berufsvereinigung, in der es jedoch wegen unterschiedlicher weltanschaulicher oder methodologischer Auffassungen auch immer wieder zu Streit kommt.

Eine solche ideologische Auseinandersetzung könnte es nun um einen neuen Ethikkodex geben, den der Vorstand der Mitgliederversammlung vorschlägt. Ich greife diesen Entwurf auf, weil vieles daran symptomatisch ist für illiberale Entwicklungen in den Wissenschaften. Der Verein hat erst vor neun Jahren mit über 90 Prozent Zustimmung einen Ethikkodex verabschiedet, der sich auf wenige allgemeine Regeln und Grundsätze beschränkt. Nun soll der Kodex detaillierter und vor allem umfassender angelegt werden, denn man will neu nicht mehr allein für die Einhaltung wissenschaftlicher Standards sorgen, sondern daneben das Bemühen um ein inklusives Arbeitsumfeld und die Vermeidung von Diskriminierung einfordern.

Inkludiert werden sollen Kriterien wie Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Familienstand, Ethnie, Nationalität, Religion, Behinderung oder Gesundheit, nicht jedoch weltanschauliche oder parteipolitische Haltungen. Die Vermutung liegt nahe, dass man also zwar demografische Gruppen nicht diskriminieren dürfte, sehr wohl aber sogenannte Klimaleugner, um nur ein Beispiel zu nennen.

Was Diskriminierung heisst, wird allerdings nirgends definiert; das öffnet willkürlichen Interpretationen Tür und Tor. So sollten die Mitglieder keine Ideen fördern, die auf eine Diskriminierung von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe zielen. Doch sind dann Vorschläge für eine Altersguillotine in öffentlichen Ämtern und in Unternehmen eine Diskriminierung der Alten? Ist die Idee eines gleichen Rentenalters für alle gegenüber den Männern mit ihrer niedrigeren Lebenserwartung diskriminierend? Ist die Idee eines höheren Rentenalters für Frauen gegenüber den Frauen diskriminierend? Oder sind Vorschläge für Quoten für bestimmte Gruppen eine Diskriminierung der anderen Gruppen?

Ebenso interpretationsbedürftig ist die Verpflichtung, Personen keine «unnötige, übertriebene oder ungerechtfertigte Aufmerksamkeit» entgegenzubringen. Damit will man Belästigungen verhindern. Doch wenn man die Definition von «übertrieben» den «Opfern» überlässt, muss man sich nicht wundern, wenn alles Mögliche als Belästigung verstanden wird. Ganz offensichtlich folgt hier ein wissenschaftlicher Verein willfährig dem Zeitgeist und überschätzt sich dabei. Die ordnungspolitische Devise, Regeln möglichst einfach zu gestalten und dabei Mut zur Lücke zu haben, wäre auch bei einem Ethikkodex ein guter Ratgeber.

NZZ 16. November 2021, Seite 23

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