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«Man betreibt Pandemiepolitik mit Angst – und das seit fast zwei Jahren»

(NZZ – Schweiz – Freitag, 17. Dezember 2021, Seite 8-9)

Zwei Liberale, zwei Ökonomen, ein Thema: Werner Widmer, Präsident der Zürcher Krebsliga und ehemaliger Spitaldirektor, debattiert mit Gerhard Schwarz, während vieler Jahre Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion, über die Schweizer Pandemiepolitik und die allgegenwärtige Furcht vor dem Tod. Das Gespräch führte Christina Neuhaus

Herr Widmer, Sie sind Präsident der Zürcher Krebsliga und leiteten als Direktor vier Spitäler. Wann ist ein Mensch krank?

Widmer: Ich orientiere mich bei der Definition von krank und gesund gerne am Meikirch-Modell. Laut diesem ist ein Mensch gesund, wenn es ihm gelingt, den Anforderungen seines Lebens zu genügen. Die Fähigkeiten dazu haben wir zum einen ererbt, zum andern werden sie erworben.

Gesundheit ist also nicht automatisch das Gegenteil von Krankheit?

Widmer: Sie ist ein labiles Gleichgewicht zwischen den Anforderungen, die sich einem stellen, und den Fähigkeiten, diesen zu genügen.

Schwarz: Ist das nicht eine etwas gefährliche Relativierung?

Widmer: Inwiefern?

Schwarz: Weil die Gefahr besteht, dass die Gesellschaft älteren oder kranken Menschen sagt, wann ihr Gesundheitszustand gut genug ist, um den Anforderungen des Lebens zu genügen.

Widmer: Die Frage, ob man den Anforderungen des Lebens genügt, ist eine Frage, die nur jeder für sich selbst beantworten kann. Es gibt Menschen, die sind chronisch krank, fühlen sich aber gesund. In der Altersklasse ab 85 haben drei von vier mindestens eine chronische Krankheit. Gleichzeitig schätzen 52 Prozent ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein. Offensichtlich gelingt es vielen Menschen, den Anforderungen des Lebens trotz chronischer Krankheit zu genügen.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit ein «Zustand des vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens».

Widmer: Gemäss dieser Definition wären wir alle immer krank.

Schwarz: Da gebe ich dir recht. Absolutheit ist eine schlechte Orientierungshilfe. Das sieht man auch in der Pandemiepolitik.

Widmer: Wobei die WHO immerhin auch das geistige und soziale Wohlbefinden berücksichtigt. Die Pandemiepolitik des Bundesrats konzentrierte sich lange ausschliesslich auf die physische Gesundheit.Viele reduzierten «gesund» auf «nicht an Covid zu sterben».

Hätte sich der Bundesrat weniger an der WHO und mehr am Meikirch-Modell orientieren sollen?

Widmer: Ja. Auch in der Pandemie gilt es, eine Balance zu finden, zwischen den Massnahmen, die man ergreift, um Schaden zu verhindern, und dem Risiko, einen solchen Schaden zu erleiden. Welche Massnahmen sinnvoll sind, hängt davon ab, welche Fähigkeiten eine Gesellschaft aus ihrer Tradition nutzen kann und welche Fähigkeiten sie sich erworben hat.

Und welche dieser Fähigkeiten hat die Schweiz?

Widmer: Den neueren technologischen und medizinischen Fortschritt haben wir uns erworben. Werte wie Freiheit, Eigenverantwortung, Solidarität, Föderalismus, Subsidiarität sind älter, unsere Generation hat sie geerbt. In China mag ein harter Lockdown ein probates Mittel sein, aber ich bin nicht sicher, ob das auch auf die Schweiz zutrifft. Der Bundesrat hat sich zu wenig überlegt, welche Rezepte mit diesen spezifischen Schweizer Fähigkeiten gelingen könnten. Statt vorwiegend auf Epidemiologen und Virologen zu hören, hätte er sich auch von Geisteswissenschaftern und Psychologen beraten lassen sollen.

Schwarz: Ich bin ja nun wirklich nicht bekannt dafür, dem Staat gegenüber besonders wohlwollend zu sein, aber diesen Vorwurf halte ich für übertrieben. Der Bundesrat und die zuständigen Ämter haben doch genau das gemacht, was du forderst. Sie haben versucht, eine vernünftige Kosten-Nutzen-Abwägung zu machen. Im Bundesrat sitzen ja nicht lauter Epidemiologen, sondern sieben Leute mit unterschiedlichem Wissenshintergrund und unterschiedlicher politischer Haltung. Oder würdest du der Aussage widersprechen, dass die Schweiz liberalere Massnahmen beschlossen hat als Deutschland oder Österreich?

Widmer: Am Anfang der Pandemie hat die Schweiz praktisch dasselbe gemacht wie alle anderen Länder in Europa, mit Ausnahme von Schweden.

Schwarz: Ausser, dass wir keine Masken hatten . . .

«Der Bundesrat fand keine Zeit, zu prüfen, welche Ressourcen die Schweiz hat. Er reagierte aus der Panik heraus.» Werner Widmer

Widmer: Die damalige Bundespräsidentin, Simonetta Sommaruga, sagte einmal, beim Anblick der Bilder aus Bergamo habe der Bundesrat schnell entschlossen handeln müssen, um ähnliche Szenarien in der Schweiz zu vermeiden. Wörtlich sagte sie: «Es wäre verantwortungslos gewesen, wenn wir zuerst theoretische Überlegungen und Berechnungen angestellt hätten.» Das ist bezeichnend. Der Bundesrat fand keine Zeit, zu prüfen, welche Ressourcen die Schweiz hat. Er reagierte aus der Panik heraus. Erst mit der Zeit schlug er einen liberaleren Weg ein.

Schwarz: Not kennt kein Gebot. Im Katastrophenfall kann man doch nicht erst Kommissionen bilden und einen runden Tisch einberufen.

Widmer: Natürlich nicht. Aber dem Bundesrat hätte bereits zu Beginn der Pandemie klar sein müssen, dass sich das italienische Gesundheitswesen stark vom schweizerischen unterscheidet. Hätte Italien ein vergleichbares Gesundheitswesen, hätten wir Bilder wie aus Bergamo wahrscheinlich nie zu sehen bekommen. Der Bundesrat hat die Stärken des eigenen Systems zu wenig berücksichtigt.

Die Debatte über richtig und falsch wird mit zunehmender Vehemenz geführt. Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklung?

Schwarz: Ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, wir hätten alles richtig gemacht. Aber mich stört dieser zunehmende Fundamentalismus – und zwar auf beiden Seiten. Manchmal habe ich das Gefühl, es gebe nur noch radikale Impfgegner und radikale Gegner von Impfgegnern, die sich gegenseitig am liebsten einsperren würden.

Widmer: Einverstanden. Die Schweiz hat kein totalitäres Gesundheitsregime errichtet. Aber wir haben als Gesellschaft noch keine Balance zwischen Massnahmen und Restrisiko gefunden. Denn ein Nullrisiko kann es nicht geben. Es muss eine Güterabwägung geben zwischen den Einschränkungen der persönlichen Freiheit und dem Risiko für Gesundheit und Leben.

Schwarz: Eine der Schlüsselfragen lautet doch: Wie gehen wir mit dem Tod um? Wir akzeptieren, dass Menschen an Krebs sterben, an Herz-Kreislauf-Versagen. Doch an dieser neuen Krankheit darf offenbar niemand mehr sterben. Diese Verabsolutierung halte ich für illiberal, ja für fast schon totalitär.

Widmer: Während der ganzen Pandemie hiess es: Jeder Tote ist ein Toter zu viel. Wenn dieser Satz richtig wäre, müsste er auf alle Krankheiten zutreffen. Dabei ist das einzig Sichere im Leben, dass man irgendwann stirbt. Die entscheidende Frage lautet: Wie gross ist das Risiko zu sterben, und welche Einschränkungen soll und will eine Gesellschaft in Kauf nehmen, um diese Todesfälle zu verhindern? Im Strassenverkehr sterben jedes Jahr über 200 Menschen. Das ist in jedem Einzelfall traurig, für die Angehörigen schockierend. Dennoch käme es niemandem in den Sinn, deswegen das Autofahren generell verbieten zu wollen.

Natürlich sind wir früher oder später alle tot. Doch darf die gesunde Mehrheit der Gesellschaft der kranken und alten Minderheit, die nun auf den Intensivstationen liegt, sagen, sie solle bitte schneller oder wenigstens bereitwilliger sterben?

Widmer: Natürlich nicht! Doch diese Gefahr besteht auch nicht, eher im Gegenteil: Manchmal wird medizinisch noch interveniert und operiert, wenn der Patient lieber sterben würde. Mein Büro im Diakoniewerk Neumünster befand sich zwanzig Meter neben einem Pflegeheim. Eine hundertjährige Frau hat mich einmal gefragt: «Herr Widmer, ich möchte sterben. Hat mich der liebe Gott vergessen?»

Und was ist mit denen, die nicht sterben möchten? Auf den Intensivstationen liegen derzeit knapp 300 Covid-19-Kranke.

Widmer: Für solche Fälle ist unser Gesundheitssystem doch da! Wir haben eine der teuersten Gesundheitsversorgungen der Welt. Es kann doch nicht sein, dass sich die ganze Bevölkerung einschränken muss, um das Gesundheitswesen zu schützen. Die Schweiz lässt sich ihre Gesundheitsversorgung jährlich 82 Milliarden Franken kosten. Doch die Spitäler sind offenbar nicht in der Lage, mehr als 865 zertifizierte Intensivbetten zu betreiben. Stellen Sie sich vor, der Gotthardtunnel würde geschlossen, weil Leute fehlten, um die Lüftung zu bedienen.

Schwarz: Das ist mir jetzt zu billig. Wir Ökonomen sagen sonst bei jeder Gelegenheit, dass Infrastrukturen nicht auf Vorrat ausgebaut werden sollen. Offenbar hat sich das System bis zur Pandemie bewährt. Würden wir jetzt einfach Kapazitäten ausbauen, die wir erst beim nächsten Ernstfall wieder benötigen, würden sich Ökonomen wie du und ich als Erste über die Verschwendung aufregen.

Widmer: Absolut einverstanden. Aber das ist doch alles eine Frage des Preises. Die ökonomische Antwort auf einen Nachfrageüberschuss lautet: Der Preis für das Angebot wird erhöht. Würde der Bundesrat den Spitälern für jeden Covid- Patienten auf der Intensivstation (IPS) den doppelten Betrag bezahlen, könnten die Spitäler die Löhne des Pflegepersonals ebenfalls verdoppeln. Dies unter der Voraussetzung, dass die Pflegenden ihr Pensum nicht reduzieren, sondern eher noch erhöhen. Ein solcher finanzieller Anreiz würde ehemalige IPS-Pflegende motivieren, vorübergehend wieder zu arbeiten. Wir haben in der Schweiz eine ganze Reservearmee von ehemaligen IPS-Fachleuten.

Die Pflegefachleute auf den Intensivstationen nennen als Grund für Pensenreduktion oder Kündigung meistens nicht ihren Lohn, sondern Erschöpfung.

Widmer: Hätten die Spitäler einen finanziellen Anreiz geschaffen, wären auch mehr Pflegende bei ihrer Arbeit geblieben, und der Druck hätte sich auf mehrere Schultern verteilt.

Schwarz: Ich glaube ebenfalls an Anreize. Sie sind eine ökonomische und liberale Antwort auf vieles. Doch ich bezweifle, dass das so schnell möglich gewesen wäre. Diese Diskussion wirft aber eine der spannendsten und herausforderndsten Fragen der Pandemiepolitik auf: Ist das Gesundheitssystem wirklich dafür da, dass es sich Menschen dank sehr aufwendiger, sehr teurer, sehr belastender Betreuung leisten können, sich nicht impfen zu lassen? Soll das Gesundheitswesen allein für diese Zusatzbelastung ausgebaut werden? Wäre es nicht ökonomischer und gerechter, bei den Ungeimpften anzusetzen?

Vielleicht, aber wäre das auch liberal?

Schwarz: In einer theoretisch-darwinistischen Situation wäre die Antwort einfach: Wer etwas nicht machen will, kann das so handhaben, solange er die Konsequenzen dafür trägt. Heute gilt allerdings: Ich lasse mich nicht impfen, und die Kosten dafür trägt die Gesellschaft. Mein Verständnis für diese Haltung ist, höflich gesagt, begrenzt. Wie siehst du das, Werner?

Widmer: Ich sehe das im Prinzip wie du. Dennoch darf die Gesellschaft den Menschen nicht vorschreiben, was sie mit ihrem Körper machen müssen.

Schwarz: Der Staat darf den Menschen nicht vorschreiben, was sie essen oder trinken sollen und wie oft sie ihr Motorrad aus der Garage holen dürfen. Doch bei offensichtlich gesundheitsschädlichem Verhalten, dessen negative Konsequenzen bekannt sind, würden mich beispielsweise höhere Krankenkassenprämien oder andere Lenkungsabgaben nicht stören. Die Intensivstationen sind wegen der Ungeimpften am Anschlag, nicht wegen der Geimpften.

Widmer: Ja, die Statistik ist eindeutig. Aber das Recht auf medizinische Behandlung gilt grundsätzlich und vorbehaltlos. Es darf nicht sein, dass eine Mehrheit der Gesellschaft Voraussetzungen diktiert, die das Recht auf eine medizinische Behandlung relativieren. Diese Türe darf man keinen Spalt breit öffnen.

Können Sie konkreter werden?

Widmer: Wer zieht die Grenzen und wo? Soll ein Patient mit Lungenkrebs keine Behandlung erhalten, weil er jahrzehntelang geraucht hat? Soll ein Paar, das dank pränataler Diagnostik weiss, dass das gemeinsame Kind behindert zur Welt kommen wird, und dennoch auf einen Schwangerschaftsabbruch verzichtet, selbst für alle Pflegekosten aufkommen müssen? Das darf doch nicht sein!

Schwarz: Nein, das darf nicht sein.

Widmer: Oder nehmen wir einen Alkoholiker mit typischer Folgeerkrankung. Wer sagt, ob der nicht mit Trinken aufhören wollte oder ob er schlicht nicht konnte? Ist nicht das übermässige Trinken an sich schon eine Krankheit?

Schwarz: Man muss die zeitliche Dimension berücksichtigen. Ich würde einen Unterschied machen zwischen langjährigem ungesundem Verhalten mit allfälligen Schäden für die Gesundheit und einer Verweigerungshaltung mit sofortiger Negativwirkung auf das ganze Gesundheitssystem. Was soll bei einer Triage passieren? Soll ein fünfzigjähriger Impfverweigerer wirklich einem Siebzigjährigen vorgezogen werden, der gar nichts für seine Krankheit kann?

Man müsste also bei der Entstehung einer Krankheit zwischen Ansteckungskrankheiten und erworbenen oder angeborenen Krankheiten unterscheiden?

Widmer: Ich bin vorsichtig, im Zusammenhang mit der Entstehung einer nichtübertragbaren Krankheit von Eigenverantwortung zu sprechen. Hingegen halte ich Eigenverantwortung für zentral beim Umgang mit einer Krankheit. Aber wissen wir, weshalb sich Ungeimpfte nicht impfen lassen wollen? Ist es einfach Dummheit oder Arroganz? Oder haben sie vielleicht einfach panische Angst vor einer Impfung? Jemandem mit panischer Impfangst kann man nicht einfach sagen: «Du musst keine Angst haben.» Diese Angst muss man ernst nehmen.

Schwarz: Ich kenne jemanden, der sich nicht impfen liess, bis die österreichischen Bergbahnen den Zutritt zu den Pisten vom Impfstatus abhängig gemacht haben. Seine Impfangst war plötzlich kleiner als die Begeisterung fürs Skifahren. Es gibt auch solche.

Würde ein Bonussystem etwas bringen? Könnte man Geimpfte beispielsweise mit einem Krankenkassenabzug von 500 Franken belohnen?

Widmer: Ja, das wäre ein guter Anreiz.

Schwarz: Liberale Lösungen gehen über Anreize, nicht über Ge- und Verbote.

Widmer: Über den Daumen gepeilt würde eine solche Prämienvergünstigung etwa 3,5 Milliarden Franken kosten. Man sollte sie aber erst gewähren, wenn das Virusproblem dank einer sehr hohen Impfquote tatsächlich kein gesellschaftliches Problem mehr ist. Das wäre massiv günstiger als ein Lockdown.

Schwarz: Aber massiv teurer, als wenn sich die Leute einfach impfen liessen. Gibt es denn keine moralische Pflicht zur Impfung?

Widmer: O ja, bei ansteckenden Krankheiten ist die Impfung auch ein Akt der Verantwortung und der Solidarität.

Schwarz: Dann sind wir in dieser Frage ja gar nicht so weit auseinander.

Widmer: Nein, gar nicht. Ich wehre mich nur dagegen, dass die Zuteilung eines Platzes auf der Intensivstation vom Impfstatus abhängig gemacht wird. Zumal wir in der Schweiz immer noch genügend IPS-Betten haben. Vom Beginn der Pandemie bis heute hat es im 15-Tages-Schnitt immer mindestens 100 freie Betten gegeben.

Schwarz: Eine gewisse Reserve braucht es doch.

Widmer: Man kann Patienten auch in andere Spitäler verlegen. Wenn irgendwo eine Intensivstation voll ist, gehen ein Chefarzt oder der Spitaldirektor an die Medien und verkünden, alle Schweizer Spitäler ständen kurz vor dem Kollaps. Man betreibt Pandemiepolitik mitAngst – und das seit fast zwei Jahren.

Derzeit liegen knapp 300 Covid-19- Patienten auf der IPS. Unser ganzes Massnahmensystem dreht sich um ein paar hundert Betten?

Widmer: Die Intensivstationen sind die Achillesferse des Gesundheitswesens. Genau das meine ich ja, wenn ich von Versagen spreche: Bei 82 Milliarden Franken im Jahr müssen wir doch in der Lage sein, mehr als 865 IPS-Betten zu betreiben.

Schwarz: Das löst doch die grundsätzlichen Fragen der Verantwortung nicht: Die Bevölkerung steht zweifellos in der Verantwortung, sich selbst und andere zu schützen.

Widmer: Ob sich jemand zum Selbstschutz impfen lassen will, geht den Staat nichts an. Den Staat hat nur der Schutz Dritter vor Ansteckung zu kümmern.

Schwarz: Wenn sich jemand nicht impft und dann wochenlang auf einer Intensivpflegestation betreut werden muss, belastet er die Allgemeinheit. Das muss man in Überlegungen zur Verantwortung doch einbeziehen. Wer sich weder um Fremd- noch um Eigenschutz kümmert, ist ein Trittbrettfahrer, und zu viele Trittbrettfahrer machen eine Gesellschaft kaputt. Man kann Impfverweigerung nicht einfach mit einem Suizidentscheid gleichsetzen.

Widmer: Das trifft alles zu. Aber wir haben es eben nicht nur mit einem naturgegebenen Problem zu tun, sondern mit der zu wenig problemorientierten Allokation der Ressourcen im Gesundheitswesen.

Schwarz: Die Knappheit der Ressourcen verstärkt das Problem doch höchstens. Daran, dass Ungeimpfte auf Kosten der Allgemeinheit auf der IPS liegen, ändert es nichts. Dieses Geld könnte man für Gescheiteres verwenden.

Widmer: Das gilt doch bei vielen Krankheiten. Wir zahlen hohe Krankenkassenprämien, auch weil wir unseren Lebensstil nicht einschränken und gesundheitliche Risiken in Kauf nehmen wollen. Diese Haltung wird gesellschaftlich finanziert. Für jeden von uns.

Ein Abzug bei der Krankenkassenprämie wäre ein guter Anreiz für die Impfung – darin sind sich die beiden liberalen Ökonomen Werner Widmer (l.) und Gerhard Schwarz einig. ANNICK RAMP / NZZ

Sollen in einer Pandemie andere Regeln gelten?

Schwarz: Die Pandemie ist letztlich ein Vergrösserungsglas für die generellen Probleme des Gesundheitswesens. In der Ökonomie würden wir das als Moral-Hazard-Problem bezeichnen. Verantwortungsloses, risikoreiches oder fahrlässiges Verhalten wird wegen ökonomischer Fehlanreize begünstigt.

Widmer: Ja, aber das Leben ist immer mit Risiken verbunden. Jemand, der kein Risiko mehr eingeht, wird am Ende in totaler Isolation sterben. Deshalb gehen wir gesundheitliche Risiken ein, weil uns anderes wichtiger ist.Wenn 1000 Personen etwas unternehmen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Promille zu einer Krankheit führt, dann wird eine von ihnen krank. Sie ist genauso wenig selber schuld, wie die anderen 999 nicht dafür verantwortlich sind, dass sie verschont wurden. Schliesslich sind alle 1000 das gleiche Risiko eingegangen. Statt den ganzen Schaden zahlt man nur den Durchschnittsschaden in Form einer Prämie. Dieses System finanziert uns unsere Freiheit. Das ist doch sinnvoll.

«Not kennt kein Gebot. Im Katastrophenfall kann man doch nicht erst Kommissionen bilden und einen runden Tisch einberufen.» Gerhard Schwarz

Schwarz: Vorausgesetzt, der Moral Hazard ist nicht zu ausgeprägt. Der Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und der Belastung des Gesundheitssystems darf nicht zu direkt sein. Deshalb haben wir bei Ansteckungskrankheiten eine andere Ausgangslage als bei anderen Krankheiten. Unsere Gesellschaft ist offenbar eher bereit, jemandem zu verzeihen, der in seiner Jugend geraucht hat, als jemandem, der sich trotz überlasteten Spitälern nicht impfen lassen will. Da ist ein grosser Teil unserer Gesellschaft offensichtlich weniger nachsichtig.

Widmer: In dieser Frage bin ich strikt. Wer krank ist, hat ein Anrecht auf Pflege. Punkt. Ich will nicht, dass dieses Prinzip aufgeweicht oder relativiert wird. Schwarz: Das wird doch nicht aufgeweicht!

Widmer: Natürlich wird es das. Statt dass wir mehr Kapazitäten auf den Intensivstationen schaffen, sollen Ungeimpfte nicht mehr die Pflege erhalten, die sie brauchen?

Schwarz: Und was sagst du zu einer versteckten Impfpflicht wie 2 G? Einer direkten würdest du ja kaum zustimmen, nehme ich an.

Widmer: Ein Impfobligatorium – auch ein indirektes – kann nur begründet werden, weil die Impfung nicht zu 100 Prozent schützt. Würde die Impfung absoluten Schutz garantieren, könnte es mir als Geimpftem ja egal sein, ob mein Gegenüber geimpft ist oder nicht. Es bestünde keine Gefahr, dass ich trotz Impfung angesteckt würde und dann jemanden anstecken könnte. Weil die Impfung eben nicht zu 100 Prozent schützt, muss man zu Einschränkungen wie 2 G greifen. Ich halte das für vertretbar. Wer sich nicht impfen lassen will, muss damit leben, dass er seine persönlichen Freiheiten etwas einschränken muss.

Schwarz: Hier sind wir uns also erneut einig: Und wie hältst du es mit dem Prinzip der Haftpflicht? Soll einer, der jemand anderes ansteckt, haftbar gemacht werden können?

Widmer: Das Problem ist, dass man jemanden anstecken kann, bevor man selbst weiss, dass man ansteckend ist. Aber wenn jemand im Wissen, positiv zu sein, herumwandert und andere ansteckt? Ich bin ja nicht Jurist, aber da sehe ich ein Potenzial für Haftung.

Schwarz: Zu einer liberalen Gesellschaft gehört die Haftung. Auch dort, wo eine Schädigung nicht absichtlich erfolgt. Wir kennen beispielsweise die Halterhaftung für Autofahrer und Hundehalter. Wer einen Hund hat, geht das Risiko ein, dass der jemanden beisst, und sichert sich dagegen ab. Nur im Gesundheitswesen hat man das Haftungsprinzip weitgehend ausgesetzt. Du argumentierst jetzt eigentlich so: Die Ausnahmen, die wir im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten praktizieren, sind das höchste Prinzip. Ich sage: Das höchste Prinzip ist die Verantwortung für sein eigenes Tun, und die Ausnahmen, die wir machen, sollten wir vielleicht jetzt infrage stellen – aufgrund der Erfahrung der Pandemie.

Widmer: Auch ich bin für mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen. Allerdings würde ich nicht bei den schweren Krankheiten anfangen, die 100 000 Franken kosten, sondern bei der Kostenbeteiligung.

Was fordern Sie? Höhere Franchisen?

Widmer: Nein, einkommensabhängige Franchisen. Wer mehr verdient, soll im Krankheitsfall auch mehr für seine Behandlung zahlen müssen als jemand, der wenig verdient.

Schwarz: Hier sind wir uns einig, nur bei den grundsätzlichen Fragen kommen wir uns nicht näher.

Widmer: Ich habe kein gutes Gefühl, wenn der Staat beginnt, den Leuten zu sagen, wie sie leben sollen. Und wenn er das nachher auch noch überprüfen und überwachen soll, kommt das nicht gut.

Schwarz: Nein, das kommt nicht gut. Die Frage ist trotzdem: Finden wir eine Lösung? Moral Hazard, Risiken auf sich nehmen und die Allgemeinheit bezahlen lassen, das kommt auch nicht gut. Das Anliegen müsste ja sein, die Leute zu eigenverantwortlicherem Handeln zu bringen.

Widmer: Ein Ungeimpfter macht sich schuldig und trägt Verantwortung, wenn er andere ansteckt. Die Frage ist: Reicht das als Begründung für die Intervention des Staates in Bezug auf das individuelle Verhalten, für einen Impfzwang beispielsweise?

Schwarz: In welche Richtung müsste man denn nach Antworten suchen? Wir Liberale sind gross darin, Probleme und Ungereimtheiten aufzuzeigen. Nun müssten wir uns auch an der Lösungssuche beteiligen.

Sie haben ein paar Lösungsansätze genannt: Anreizprämie, Haftung, doppelte Zahlung pro IPS-Patient.

Schwarz: Gegen die Forderung nach mehr Geld zur Lösung aller Probleme habe ich mich in dreissig Jahren Wirtschaftsjournalismus immer gewehrt. Immer will jemand irgendwo die Ressourcen erhöhen: im Verkehr, im Bildungswesen. Das ist unökonomisch. Wir leben nun einmal in einer Welt knapper Ressourcen. Noch mehr Geld für das Gesundheitswesen bedeutet, dass dieses Geld dann irgendwo anders fehlt.

Widmer: Das relativiert sich schnell, wenn man die einzelnen Lösungsansätze miteinander vergleicht: Wollen wir 40 bis 50 Milliarden für einen Lockdown ausgeben oder 2 Milliarden für das IPS-Personal? Das sind doch die Alternativen. Wenn diese Achillesferse, dieser Flaschenhals nicht wäre, könnte man sich mit deutlich weniger einschneidenden Massnahmen begnügen. Aber alles dreht sich um diese 865 Betten.

Schwarz: Ich persönlich habe die Hoffnung, dass möglichst bald Medikamente gegen Covid zur Verfügung stehen. Denn wenn Covid behandel- oder heilbar wird, ist es nur noch eine Krankheit unter vielen anderen. Wie Krebs oder Grippe. Die Behandlungserfolge sind hoch, doch ein gewisser Teil der Patientinnen und Patienten stirbt dennoch. Das nehmen wir in Kauf, bei Covid sind wir noch nicht so weit.

Widmer: Richtig. Es bleibt die Erkenntnis, dass wir Covid nicht ausmerzen können. Wir müssen damit leben lernen.

Ein Abzug bei der Krankenkassenprämie wäre ein guter Anreiz für die Impfung – darin sind sich die beiden liberalen Ökonomen Werner Widmer (l.) und Gerhard Schwarz einig. ANNICK RAMP / NZZ

Liberale Schwergewichte

cn. · Werner Widmer ist der Präsident der Zürcher Krebsliga. Vor seiner Pensionierung leitete er als Direktor mehrere Spitäler, unter ihnen das Universitätsspital Zürich. Er wurde kürzlich mit dem Röpke-Preis des Liberalen Instituts ausgezeichnet. Gerhard Schwarz war langjähriger Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion, stellvertretender Chefredaktor der NZZ und von 2010 bis 2016 Direktor der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse. Er erhielt den Röpke-Preis 2020. Beide Herren sind Ökonomen.

NZZ Freitag, 17. Dezember 2021, Seite 8-9

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