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Zwischen Romantik und Zwängerei

(NZZ – Wirtschaft – Schwarz und Wirz – Dienstag, 8. Februar 2022, Seite 21)

GERHARD SCHWARZ

Neuerdings begegnet einem in Diskussionen über das Verhältnis der Schweiz mit der EU oft eine unter dem Eindruck der sachfremden Erpressungsversuche Brüssels akkommodierende Haltung: «Jetzt ja keine roten Linien und scharfen Vorbedingungen mehr, sondern möglichst offenes Verhandeln, um aus der verzwickten Situation herauszufinden.» Angesichts der starren Haltung der Kommission laufen solche Vorstellungen meist auf eine nur leicht modifizierte und neu verpackte Wiederauflage des wegen fehlender Mehrheitsfähigkeit beerdigten Rahmenabkommens hinaus. Mir scheint indessen in der jetzigen Lage eher das Gegenteil angesagt.

Die Übung mit dem Rahmenabkommen ist gescheitert, weil die Schweiz nicht wusste, was sie wollte und was sie nicht wollte, vor allem aber, weil sie nie den Mut und Anstand hatte, es dort, wo sie es wusste, klar zu kommunizieren. Dadurch standen mehrere Elefanten im Raum, wie die umfassende dynamische Rechtsübernahme, die entwürdigende Guillotineklausel, die Idee, bei Streitigkeiten dem Gericht der EU (EuGH) das letzte Wort zu geben, oder die fast bedingungslose Personenfreizügigkeit.

Wie kommt man an diesen Elefanten vorbei? Es gibt zwei mit der Schweizer Demokratie verträgliche Weiterentwicklungen der Beziehung zur EU, die der Bundesrat der Kommission vorschlagen könnte, nicht als Gegensätze, sondern als zwei mögliche Optionen. Die eine ist ein Festhalten am Bilateralismus bei gleichzeitiger Verschlankung. Dazu gehörte der Verzicht auf eine Paketlösung: Jedes sektorielle Abkommen sollte für sich selbst gelten und in sich ausgeglichen sein. Dazu gehörte auch, dass die Dynamisierung die Ausnahme und nicht die Regel darstellte; eine solche Ausnahme könnten technische Normen bilden. Dazu gehörte ferner eine Streitbeilegung ohne explizite Rolle des EuGH; das Zollsicherheitsabkommen mit der EU liefert dafür Inspiration. Vor allem aber gehörte dazu die strikte Befolgung des Grundsatzes von Treu und Glauben, gegen den die EU mit der Herabstufung der Schweiz in der Forschungspolitik zu einem Drittland ebenso verstösst, wie es die Schweiz mit ihrer Blockade der Kohäsionszahlungen tat.

Die zweite Option ist ein modernes Freihandelsabkommen, wie es die EU mit Kanada ausgehandelt hat. Was die EU diesem Land gewährt, sollte sie auch der Schweiz zugestehen können. Zwar bezeichnete 2015 ein Gutachten im Auftrag des Bundes ein umfassendes Freihandelsabkommen als Rückschritt gegenüber den Bilateralen, aber damals galt der Vergleich weder einem verschlankten Bilateralismus noch einem Nadelstich-Bilateralismus. Deshalb ist diese Option nun doch prüfenswert.

Um der Blockademacht der Bauern zu entgehen, sollte man allerdings die Agrarpolitik aus einem solchen Vertrag ausklammern. Das ist zwar ordnungspolitisch ärgerlich, aber zum Glück ist die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft fast überall gering. Beide Optionen stellten valable Alternativen dar sowohl zur Autarkie- Romantik als auch zur Zwängerei mit Vorschlägen, die zu nahe beim Rahmenabkommen liegen.


Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

NZZ 8. Februar 2022, Seite 21

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