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Die übersehene Geografie der Neutralität

(Nzz.ch, 3. Mai 2022)

Das Neutralitätsverständnis der Schweiz ist wesentlich vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Doch das war eine geografisch völlig andere Konstellation als heute. Damals war die Schweiz von einer feindlichen Macht umzingelt, heute liegt sie mitten im Territorium des ihr wohlgesinnten Verteidigungsbündnisses Nato. Das kann die Neutralitätspolitik nicht unberührt lassen.

Gerhard Schwarz

In der derzeitigen Kriegssituation ist die Schweiz nicht etwa von einer feindlichen Macht, sondern von der ihr wohlgesinnten Nato «umzingelt».

Seit dem Krieg in der Ukraine ist in der Schweiz eine Diskussion über die Neutralität aufgeflammt. Sie ist dringend nötig. Das Land hat der Neutralität viel zu verdanken. Auch wenn sie von vielen fälschlicherweise als unsolidarisch angesehen wird, ist sie ein kluges defensives Konzept für kleinere und mittlere Länder und deren Regierungen. Sie ist nicht unmoralisch, sondern trägt zum Frieden bei. Doch will man sie pflegen, muss man ohne Tabus über ihre konkrete Ausgestaltung und Anpassung nachdenken.

Leider wird in fast allen theoretischen Überlegungen die Rolle der Geografie vernachlässigt. So ist die Grösse der Konfliktparteien relevant. Jeder neutrale Staat tut sich schwer, wenn eine Macht wie die USA ein kleines Land angreift, das nicht von anderen Grossmächten gestützt wird.

Und nur in drei geografischen Konstellationen dürfte Neutralität einigermassen funktionieren: Erstens, wenn ein Konflikt weit weg ist, sich etwa zwei Staaten in Asien bekämpfen und zudem ihre Alliierten sich nicht in ihrer Existenz bedroht fühlen; zweitens, wenn ein Land mitten im Konfliktherd liegt und sich der Eroberung oder der Nutzung als Schlachtfeld dadurch entzieht, dass es auf keine der beiden Seiten kippt; drittens, wenn ein Land (wie die Schweiz im Zweiten Weltkrieg) von einer feindlichen Macht umzingelt ist, sich aber von dieser nicht vereinnahmen lässt. Die letzten beiden Fälle verlangen allerdings zwingend, dass der potenzielle Aggressor mit einem hohen Eintritts- und Aufenthaltspreis rechnen muss und dass der Neutrale Äquidistanz wahrt.

Die derzeitige Situation der Schweiz fällt in keine dieser Kategorien. Das Land ist «umzingelt» von einer wohlgesinnten «Macht». Der Verteidigungspakt Nato will präventiv verhindern, dass einzelne seiner Mitglieder angegriffen werden. Er befindet sich de facto im Krieg, wenn auch ohne direktes militärisches Engagement, sondern nur mit Sanktionen. Die Nachbarländer sind der Schweiz kulturell und ideell nahe und mit ihr menschlich und wirtschaftlich eng verflochten. Dem Einsatz vor allem Grossbritanniens und der USA im Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz zudem viel zu verdanken.

Hier Russland und die Ukraine sowie deren Freunde auf eine Ebene zu stellen, regimetreue russische Oligarchen gleich zu behandeln wie amerikanische Milliardäre (ob sie Trump oder Biden unterstützen), durch das Verbot von Transporten durch (oder über) das Land die Arbeit der Nato zu erschweren oder die Weitergabe von Munition aus Schweizer Produktion zu verbieten, ist alles in allem reichlich naiv – und illoyal.

Neutralität soll der eigenen Bevölkerung den Frieden bewahren und sie aus militärischen Händeln heraushalten. Das verlangt Pragmatismus, nicht Dogmatismus. Äquidistanz ist weder möglich noch nützlich. Das Motto in der gegebenen geografischen Konstellation muss vielmehr lauten: Kooperation mit der Nato, wenn es der eigenen Verteidigung dient, und wohlwollende Unterstützung aus der Distanz, wenn die Nato versucht, eine Bedrohung ihres Territoriums, in dessen Mitte die Schweiz liegt, abzuwehren.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.
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