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Sollen wir alles genau so erhalten, wie es ist?

(Nzz.ch, 31.05.2022)

Die Umwelt- und Klimapolitik ist reich an Zuspitzungen und Verengungen. Besonders beliebt ist die Forderung, man müsse die Welt genau so erhalten, wie sie ist. Daran haben sich die Menschen durch ihre Geschichte hindurch zum Glück nie gehalten. Sie sollten sich auch jetzt nicht der Tyrannei des Status quo unterwerfen.

Gerhard Schwarz

Nicht jedes Stück Wald muss kompensiert werden.

Auseinandersetzungen über Klima und Umwelt sind ein Paradebeispiel für die Polarisierung der westlichen Gesellschaften. Zu ihr tragen alle bei, die ökologische Probleme leugnen. Zum Glück repräsentieren sie aber einen schwindenden Teil der Bevölkerung. Mindestens ebenso zur Spaltung tragen jene bei, die mit dem Weltuntergang drohen, wenn die Menschheit nicht subito auf einen Pfad massiven Verzichts einschwenkt.

Sie lenken damit von einer konstruktiven, erfolgversprechenden «Step by step»-Politik ab, und sie neigen dazu, Rechtsbrüche sowie Gewalt gegen Sachen, ja gegen Menschen damit zu rechtfertigen, dass es um die Rettung der Welt gehe. Auf dieser Basis wird eine Voraussetzung der Demokratie, der respektvolle Dialog, unmöglich.

Totalitäre Sprengkraft

Dem Mix aus Katastrophenprophezeiungen, der Überzeugung, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, und dem Versprechen eines «sicheren» Auswegs wohnt totalitäre Sprengkraft inne. Eine Aussage stösst mir als Ausdruck dieser engen Haltung besonders auf. Sie lautet, wir müssten der nächsten Generation die Welt so übergeben, wie wir sie angetroffen hätten. Ich halte das für Unsinn, auch wenn es gut tönt. Obwohl: Tönt es überhaupt gut? Wer will schon seinen Kindern genau das vererben, was er von den Eltern erhalten hat? Meist möchte man ein grösseres und anderes Erbe weitergeben – etwa in Form von Bildung.

1987 hob der Brundtland-Bericht den Begriff der Nachhaltigkeit aufs Podest der Umweltpolitik. Eine Entwicklung galt als nachhaltig, wenn die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt wurden, ohne dass man riskierte, dass deswegen künftige Generationen ihre Bedürfnisse nicht stillen können. Irgendwann wurde dieses offene Konzept durch die enge, konservative Vorstellung pervertiert, man müsse alles genau so erhalten, wie es ist.

Robert Solow, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat das schon 1992 luzide kritisiert. Es gehe bei der Nachhaltigkeit nur um die langfristige Sicherung der Fähigkeit, wirtschaftliche Wohlfahrt zu schaffen. Basis sei der Erhalt des Kapitals im weitesten Sinne, also Finanzkapital, Sachkapital, Sozialkapital, Umweltkapital usw., wobei aber nicht jeder einzelne Teil des Kapitalbestands erhalten werden müsse. Vielmehr seien Trade-offs und Substitutionen nicht nur erlaubt, sondern wesentlich.

Holprige Strassen und ein rudimentäres Bahnnetz

Bei menschengemachter Infrastruktur ist das evident. Hätten sich die Vorväter auf Erhaltungsinvestitionen beschränkt, würden wir noch heute auf holprigen Strassen und einem rudimentären Bahnnetz herumfahren. Aber sie haben in mehr Sicherheit, Komfort und Schnelligkeit investiert, unter Inkaufnahme von Umweltbelastungen sowie unter Verzicht auf Konsum und auf Investitionen in andere Bereiche.

Man kann nicht alles gleichzeitig haben. Für die Umwelt gilt das auch. Die Welt, die wir hinterlassen, soll nicht einfach die Welt von heute oder gar gestern sein, sie soll nur langfristig stabil und in der Summe lebenswert sein. Nicht jedes Stück Wald oder Wiese muss kompensiert werden. Der Status quo eignet sich selten als Richtschnur – auch in der Umwelt- und Klimapolitik.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/umwelt-und-klima-sollen-wir-alles-erhalten-wie-es-ist-ld.1686532

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