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Diversität, nicht Beliebigkeit

Warum der Liberalismus keine geschlossene Ideologie ist

(Nzz.ch, 18.10.2022)

Liberale liegen in vielen Sachfragen, etwa Klimaschutz, Migration, Verteidigung, Pandemiebekämpfung und in der Einschätzung des Populismus, oft weit auseinander. In der Ablehnung von Extremismen links und rechts sind sich die meisten Liberalen hingegen einig.

Gerhard Schwarz

Vor allem in den USA (Stichwort Trump) sehen viele Liberale im Populismus die grösste Gefahr für die freie Gesellschaft.

Unlängst hatte ich nach langem Corona-Unterbruch Gelegenheit, wieder an einem Weltkongress liberaler Denker und Think-Tanker teilzunehmen. Die 1947 auf Initiative Friedrich von Hayeks unter Mithilfe Wilhelm Röpkes oberhalb von Vevey gegründete Mont Pèlerin Society (MPS) traf sich anlässlich ihres 75. Geburtstags in Oslo. Wie bei meiner ersten Teilnahme an einer MPS-Tagung, 1984 in Cambridge, England, frappierte mich die Spannbreite der Ideen unter Liberalen.

Kritiker stellen den Liberalismus gerne als geschlossene Ideologie dar. Das ist weit von der Realität entfernt. Es liegt in seiner Natur, dass seine Anhänger Freigeister sind. Mit der Breite des Spektrums ist allerdings nicht der beliebige Gebrauch des Wortes Liberalismus durch alle möglichen Parteien und politischen Strömungen von links bis rechts gemeint. Gemeint sind vielmehr die Debatten unter jenen Liberalen, denen die freie Gesellschaft am Herzen liegt und die Wettbewerb, Privateigentum und Selbstverantwortung hochhalten. Solche Debatten zeichnen die MPS seit der Gründung aus.

Damals standen sich europäische Liberale wie Röpke, die eine gewisse soziale Sicherung für nötig hielten, und amerikanisch geprägte Libertäre, denen die sozialstaatlichen Ideen zu weit gingen, gegenüber. Der austro-amerikanische Ökonom Ludwig von Mises liess sich in diesem Zusammenhang zum Temperamentsausbruch hinreissen, die Gründungsmitglieder der MPS seien «a bunch of socialists».

Klima: Anpassung oder Alarmismus?

Noch heute verläuft die Trennlinie oft zwischen den USA und Europa. In Oslo gab es Liberale, die in Sachen Klima auf Innovationen und Anpassung an die Erwärmung setzen, und solche, die den Alarmismus der Klimajugend teilen, aber die richtige Antwort darauf in marktwirtschaftlichen Instrumenten sehen.

Hinsichtlich Russland standen libertäre Isolationisten, die finden, jedes Land müsse sich selbst verteidigen und die USA hätten keinen Anlass, in der Ukraine für die Europäer die Kohlen aus dem Feuer zu holen, jenen Liberalen gegenüber, die der Meinung sind, in der Ukraine werde die freie Welt verteidigt – und das gehe alle etwas an. In der Pandemiebekämpfung der letzten Jahre sahen einige den normalen politischen Pragmatismus in aussergewöhnlichen Zeiten, während andere den Beginn einer totalitären Diktatur witterten.

Trump und der Populismus

Besonders gross ist die Spannbreite beim Populismus. Vor allem in den USA (Stichwort Trump) und in Deutschland (Weimar lässt grüssen) sehen viele Liberale in ihm die grösste Gefahr für die freie Gesellschaft. Wohl die Mehrheit sieht es hingegen als Ausdruck der Demokratie an, dass Politiker um die Gunst des Wahlvolks buhlen, die Migration und andere Themen auch emotional bewirtschaften und die Abgehobenheit politischer Eliten in vielen Demokratien anprangern. Sie distanzieren sich von Extremismen jeglicher Art, teilen aber nicht die fast panische Angst, der Populismus könnte zu dominant werden. Wüsste man nicht, wie schwierig es ist, Institutionen von einem Land auf ein anderes zu übertragen, wäre man als Schweizer versucht, mehr direkte Demokratie in Sachfragen zur Einhegung des Populismus zu empfehlen.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/liberale-diversitaet-nicht-beliebigkeit-ld.1707699

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