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Korrekturbedarf bei der Steuerprogression

(Nzz.ch, 21.03.2023)

Nachteile für Paare

Die Steuerprogression hat angesichts moderner Lebensformen unbeabsichtigte negative Wirkungen. Allgemein bekannt ist die Heiratsstrafe. Ihre Beseitigung durch eine Individualbesteuerung führt zu einer Einverdiener-Strafe. Und angesichts des Trends zur Teilzeitarbeit entwickelt sich die Progression zur Vollzeitarbeit-Strafe.

Gerhard Schwarz

Was wohl Karl Marx zur Verbreitung der Teilzeitpensen sagen würde?

Im «Kommunistischen Manifest» von 1848 forderten Karl Marx und Friedrich Engels eine «starke Progressionssteuer», die allmählich gesteigert und bis zur Enteignung der «Bourgeoisie» führen sollte. Trotz diesem Ursprung ist die progressive Einkommensbesteuerung bis weit in bürgerliche Kreise hinein im Prinzip als Instrument der Umverteilung und sozialen Befriedung unumstritten. Verknüpft mit der Progression ist das sogenannte Leistungsfähigkeitsprinzip. Es lautet, dass hohe Einkommen eine hohe Leistungsfähigkeit signalisieren und umgekehrt Empfänger niedriger Einkommen weniger leistungsfähig sind.

Ein Ernährer

Allerdings stammt das Konzept aus einer Zeit, in der der meist männliche «Ernährer» in der Regel zu 100 Prozent arbeitete. Sein Einkommen reflektierte bei aller Unschärfe halbwegs die Leistungsfähigkeit. Von der Leistungswilligkeit konnte man grosszügig abstrahieren.

In der modernen Welt sind zwei Dinge anders. Immer mehr Menschen gehen aus freien Stücken nicht mehr zu 100 Prozent einer Erwerbsarbeit nach, sondern nur noch zu vielleicht 80 Prozent oder 60 Prozent. Und statt des Ernährers tragen meist beide Ehepartner zum Familieneinkommen bei. Die Motive dafür sind vielfältig. Sie sind in einer liberalen Gesellschaft zu respektieren. Beide Entwicklungen reiben sich aber mit der progressiven Besteuerung. Sie führen zu Wirkungen der Progression, die weder beabsichtigt waren noch sinnvoll sind.

Genossenschaftswohnung und Kinderbetreuung

Die eine Reibung betrifft die Teilzeitarbeit. Wer bei einem 100-Prozent-Lohn von 100 000 Fr. nur 80 Prozent arbeitet, zahlt ungefähr halb so viel direkte Bundessteuer, wie wenn er 100 Prozent arbeiten würde. Dieser Umstand verstärkt die Anreize zur Pensenreduktion, die von Einkommensobergrenzen für den Zugang zu unter dem Marktwert vermieteten (Genossenschafts-)Wohnungen oder von einkommensabhängigen Preisen für die Kinderbetreuung ausgehen. Die Progression fördert also die Teilzeitarbeit und wird zu einer Vollzeitarbeit-Strafe.

Die andere Reibung ist inzwischen allgemein bekannt. Wenn bei einem verheirateten Paar beide Partner ein Einkommen nach Hause bringen, führt die Progression bei gemeinsamer Veranlagung dazu, dass sie trotz ermässigtem Steuertarif für Ehepaare mehr Steuern zahlen als unverheiratete Paare. Mit der Individualbesteuerung will man diese Heiratsstrafe beseitigen. Das wäre längst nötig.

Nicht nur traditionelle Paare werden bestraft

Allerdings führt man damit eine Einverdiener-Strafe ein. Am wenigsten Steuern zahlt dann nämlich jenes Paar, bei dem beide genau gleich viel zum Haushaltseinkommen beitragen. Alle anderen Kombinationen, also nicht nur das traditionelle Familienmodell, sondern auch all jene, in denen die Partner wegen unterschiedlicher Verdienste oder unterschiedlicher Arbeitspensen ungleich zum Gesamteinkommen beitragen, werden bestraft.

Für solche Gesellschaftspolitik ist die Progression weder gedacht noch geeignet. Beide Nachteile liessen sich beheben. Bei Teilzeiteinkommen könnte man den Steuersatz auf der Basis eines 100-Prozent-Lohnes festlegen, unabhängig vom Pensum, und bei der Ehepaarbesteuerung könnte man die Paare wählen lassen zwischen einer Individualbesteuerung und einem Splitting, wie es in anderen Ländern praktiziert wird.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/korrekturbedarf-bei-der-steuerprogression-ld.1731379

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