Zum Inhalt springen

Preisstabilität heisst Preisstabilität – und sicher nicht 4 Prozent Inflation

Wer, wenn er realistisch gesetzte Ziele verfehlt, die Ziele anpasst, macht sich und anderen etwas vor. Leider besteht derzeit in der Geldpolitik eine Tendenz in diese Richtung. Es wäre für die Glaubwürdigkeit der Notenbanken verheerend, wenn sich dieser Trend durchsetzen würde.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 02.05.2023

Die hohe Teuerung sinkt wieder etwas. Aber die Notenbanken sollten sich nicht zu schnell zufriedengeben. Bei 4 Prozent Teuerung kann man mit dem gleichen Geld alle 18 Jahre nur noch halb so viel in den Einkaufskorb legen.

Eigentlich sollte klar sein: Preisstabilität bedeutet stabile Preise. Das durchschnittliche Preisniveau sollte sich nicht erhöhen, nicht um 1 Prozent, nicht um 2 Prozent und schon gar nicht um mehr als das. Doch in der Realität ist alles komplizierter.

Was Neuseelands Notenbank Ende der 1980er Jahre als Experiment einführte, als die Inflation im Land auf über 7 Prozent stieg, nämlich ein Inflationsziel von 2 Prozent, hat sich inzwischen international als Zauberformel etabliert – wenn auch mit Nuancen.

Am rigorosesten ist noch die Schweizerische Nationalbank (SNB) geblieben, die zum Glück an ihrer erfolgreichen Definition festhält, dass Preisstabilität herrscht, wenn das durchschnittliche Konsumentenpreisniveau um weniger als um 2 Prozent pro Jahr steigt (und nicht anhaltend sinkt). Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte lange ein Inflationsziel von unter, aber nahe 2 Prozent anvisiert. Raten von «nur» 1 Prozent oder darunter gefielen ihr nicht.

Neuerdings ist die EZB sogar wie die amerikanische Geldbehörde, das Fed, auf ein mittelfristiges Inflationsziel eingeschwenkt. 2 Prozent sind keine Obergrenze mehr, sondern das Ziel im Durchschnitt mehrerer Jahre. In einzelnen Jahren kann der Preisauftrieb darüber- oder darunterliegen.

Diese symmetrische Interpretation des Inflationsziels stellt eine versteckte Aufweichung der Geldpolitik dar. Die Bevölkerung soll es nicht so richtig merken. In der Schweiz haben die Ökonomen Stefan Gerlach, Yvan Lengwiler und Charles Wyplosz vor gut zwei Jahren eine solche Kurskorrektur angemahnt. Neuer und dreister sind Bestrebungen, das Versagen in der Inflationsbekämpfung einfach wegzudefinieren, indem man das Inflationsziel auf 3 Prozent oder sogar 4 Prozent erhöht.

Käme das zustande, könnten die Zentralbanken trotz 4 Prozent Inflation keck behaupten, sie hätten ihren Auftrag erfüllt, obwohl sich bei einer solchen Rate der Wert der Geldvermögen alle 18 Jahre halbiert, statt nur alle 36 Jahre, wie bei 2 Prozent Inflation. Die keynesianischen Professoren Olivier Blanchard und Paul Krugman argumentieren seit längerem in diese Richtung.

Doch die an sich schon wackligen Argumente für 2 Prozent statt 0 Prozent Preisauftrieb taugen nicht zur Begründung einer Erhöhung des Inflationsziels auf 4 Prozent. Am ehesten hat noch die These etwas für sich, Preisanstiege seien oft gar keine Inflation, sondern reflektierten technische Verbesserungen, so dass einen auch Raten über 2 Prozent nicht beunruhigen müssten.

Dagegen ist die Behauptung, nur zu viel Inflation sei schlecht, während ein bisschen Inflation die Wirtschaft belebe und zum Konsum anrege, ein Einfallstor für mangelnde geldpolitische Disziplin. Das gilt auch für das gelegentlich zu hörende Argument, man könne mit etwas Inflation Sparerinnen und Sparern eher einen Nominalzins zahlen. Abgesehen davon, dass das Argument ohnehin eher skurril ist, ruft es jedenfalls nicht nach einer Inflation von 4 Prozent. Und genauso gilt das mit Blick auf den Spielraum nach unten, den man angeblich brauche, um notfalls mit niedrigen Zinsen die Konjunktur beleben zu können. 2 Prozent genügen als Sicherheitsabstand völlig.

Der entscheidende Grund, weswegen man jeder offenen oder versteckten Anpassung der Inflationsziele entsagen sollte, ist der damit einhergehende Verlust an Glaubwürdigkeit. Und Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Kapital von Banken – auch von Notenbanken.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.
Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert