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Ich habe Angst, was soll ich tun? – Fürchte dich!

(NZZ – FOKUS DER WIRTSCHAFT – Samstag/Sonntag, 8./9. Juni 2002, Nr. 130, Seite 29)

Ein Ökonom auf der Suche nach Gründen für unsere Furchtgier

Von Guy Kirsch*

Gemäss dem Motto «Economics is what economists do» umfasst die Wirtschaftswissenschaft mehr als nur technisch anspruchsvolle Analysen von ökonomischen Zusammenhängen im engeren Sinn. Ein Beispiel dafür ist der folgende Text eines anerkannten Ökonomen, der letztlich eine auf dem Konzept von Angebot und Nachfrage basierende Reflexion über einen zutiefst menschlichen Zug, die Angst, darstellt. Man ist versucht, mit Bruno S. Frey auszurufen «Auch das ist Ökonomie», zumal, weil Angst in der Wirtschaft und im Konjunkturverlauf eine grosse Rolle spielen kann. (Red.)

Diffuse Ängste als Auslöser konkreter Furcht. (Edvard Munch; Angstgefühl 1896)

Mögen Katastrophen oft neue Denkblockaden schaffen, so brechen sie doch nicht selten alte Tabus auf. So auch der Anschlag vom 11. September 2001. Was vorher als Zeichen neurotischer Schwäche belächelt und verachtet worden ist, ist nunmehr zu einer gesellschaftlich akzeptierten, ja geradezu obligatorischen Praxis geworden: das Reden über die eigene Angst. Mochte man auch ehedem seine Angst zum Psychotherapeuten getragen haben, so tat man es verschämt-heimlich. Anders heute: Die eigene Angst ist geradezu ein Thema von Partygesprächen geworden. Wer heute behauptet, ohne Angst zu sein, macht sich in weiten Kreisen der Grossmäuligkeit oder aber der Gedankenlosigkeit schuldig. Auch wird Angst nicht mehr als die nur für diktatorische Regime typische Gefühlslage angesehen. Heute gilt – vorerst zu Recht oder zu Unrecht –, dass auch freiheitliche Gesellschaften latent angstbereit oder offen angstgeprägt sein können. Mehr noch: Es ist zur «common wisdom» geworden, dass man hier und heute individuelle Befindlichkeiten und gesellschaftliche Prozesse nicht begreifen kann, wenn man nicht in Rechnung setzt, dass es verängstigte Menschen, Angstmacher, Angstverbreiter, Angstverwerter und Entängstiger gibt. Man weist darauf hin, dass ganze Berufszweige – Journalisten, Psychotherapeuten, Politiker, Consultants, Priester, Wahrsager und Heilsbringer – davon leben, dass die Menschen Angst haben, dass diese Angst angefacht, unterhalten, geschürt, verbreitet, genutzt oder aber gemildert wird.

Die Globalisierung als Quelle der Angst

Hilfreich ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Angst und Furcht. Während die Angst ein diffuses Gefühl der Bedrohung ist, besteht die Furcht im Gefühl einer identifizierbaren Gefährdung. Man fürchtet sich vor etwas, doch hat man schlicht Angst. Akzeptiert man diese Unterscheidung, dann stellt sich die Frage, ob und warum viele von uns, im Zweifel mehr als früher, angstbesessen und furchtsüchtig sind. Eine plausible Erklärung für beides – die Angstintensität und die Furchtgier – besteht in Folgendem: Als Konsequenz der mit dem Modewort Globalisierung angesprochenen Entwicklung erfahren viele von uns, dass die für ihr Leben, Wohlleben, ja Überleben relevante Welt nicht nur sehr weiträumig, sondern in Einzelfällen auch bis zur Undurchschaubarkeit komplex geworden ist. Wohl ist die Fülle einzelner Informationen überwältigend, doch fehlt es an einem konsistenten und sinnhaften Wissen über die Welt. Mit der Folge, dass wir ahnen, dass vieles, über das wir informiert sind bzw. sein können, für unser Leben und Schicksal von Bedeutung sein mag, dass wir aber häufig nicht wissen können, wie und in welchem Masse dieses oder jenes unser Leben tangiert.

Sich anpassen, um in die Welt zu passen

Es liesse sich an dieser Stelle einwenden: Warum sollte man in dieser Situation Angst haben müssen und nicht voll Vertrauen sein können, dass auch eine undurchschaubare Welt im Letzten menschen- und lebensfreundlich ist? Nun mag es Menschen geben, die – im Vertrauen auf die Tragfähigkeit der Wirklichkeit und ihre eigenen Fähigkeiten – ohne Angst sind. Doch dürften sie selten sein, und zwar aus folgendem Grund: Damit die Welt für den Menschen heimisch, ja auch nur bewohnbar ist, muss er sie aktiv gestalten. Der Einzelne muss also die Hoffnung haben, dass er in der Welt mit einiger Aussicht auf Erfolg zielstrebig handeln kann. Gerade diese Hoffnung aber scheint sich gegenwärtig für viele zu verflüchtigen. Der Einzelne kann immer weniger wissen, was er heute tun muss, wenn er morgen dies oder jenes erreichen will. In dem Masse nämlich, wie der Einzelne davon ausgehen muss, dass morgen die gültigen Wertmuster, die verfügbaren Techniken, die für ihn wichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen usw. auf unvorhersehbare Weise anders als die heutigen sein können, gibt es für ihn immer weniger die Möglichkeit der aktiven Gestaltung.

Um das Flüchtige zu gestalten, braucht man irgendwie einen festen Halt. So wie man die Wirbel jenes Flusses, in dem man dahintreibt, nicht nach dem eigenen Geschmack formen kann, so gestaltet man eine sich verflüssigende Welt nicht nach den eigenen Präferenzen. Alles, was man tun kann, ist, sich schwimmend den Strömungswirbeln anzupassen. Was auch heisst, dass der Mensch, der seine Welt immer weniger so gestalten kann, dass sie zu ihm passt, zunehmend darauf angewiesen ist, sich selbst, sein Selbst laufend so zu verändern, dass er in die Welt passt.

Heute Bümpliz, morgen Bombay

Dies hört sich theoretisch-abstrakt an, entspricht jedoch der konkreten Lebenssituation von vielen. Die Stichworte lauten: Flexibilität, Mobilität, Belastbarkeit, Wendigkeit. Lass den Job von heute, und mache morgen was anderes! Wohne heute in Bümpliz und morgen in Bombay. Vergiss die Ehe auf Lebenszeit; Lebensabschnittpartnerschaften sind gefragt. Richte dein Handeln nicht nach absoluten Prinzipien aus, sondern ergreife Gelegenheiten. Werde nicht, wer du bist, sondern jener, der in eine Nische, in irgendeine Nische, hineinpasst.

Gewiss, dies ist eine Überzeichnung. Doch zeigt sich in ihr, was die Situation von vielen mehr oder weniger charakterisiert: Entweder müssen sie auf die Undurchschaubarkeit der Welt und auf deren Verflüssigung mit einer entsprechenden Liquifizierung ihrer selbst, richtiger: ihres Selbst, reagieren; oder aber sie halten an ihrem Selbst fest, sind dann aber gezwungen, sich selbst, ihr Selbst der Undurchschaubarkeit der Welt zu stellen. In beiden Fällen ist die Folge Angst. Und die Angst dürfte für viele Mitglieder unserer Gesellschaft umso belastender sein, als sie sich nicht (mehr) in der ungesicherten Sicherheit eines Glaubens der Last der Unsicherheit der Welt bzw. der Ungesichertheit des eigenen Selbst entledigen können.

Das Geschäft mit der Furcht

Nun ist die Angst ein manchmal motivierendes, oft destruktives, immer schwer auszuhaltendes Gefühl. Es kann motivierend sein, wenn es dazu anhält, jene Gefahr zu identifizieren, die konkret droht. Es ist dann destruktiv, wenn eine solche Gefahr nicht identifiziert werden kann: Wo man nichts Bestimmtes offensiv gestaltend angehen oder fliehen kann, liegt es nahe, alles und jedes zu bekämpfen, vor allem und jedem zu fliehen oder aber dann, wenn weder Furcht noch Aggression möglich sind, in katatone Erstarrung zu verfallen: Jenem, der schon erstorben ist, droht keine Gefahr mehr. Das Gefühl der diffusen Angst ist auch schwerer zu ertragen als eine konkrete Furcht: Wer in der Nacht ein angstauslösendes Geräusch im Keller hört, sucht im Zweifel so lange, bis er jene Ratte gefunden hat, vor der er sich fürchten und die er jagen bzw. vor der er davonlaufen kann. Es ist ein gängiges Reaktionsmuster, dass jener, der allgemein Angst hat, danach strebt, etwas Bestimmtes zu fürchten.

Man möchte annehmen, dass nichts leichter ist, als jene Gefahr zu identifizieren, vor der man sich fürchten kann. Nun ist aber genau dies in einer Welt, über die das konsistente und sinnhafte Wissen trotz, ja zum Teil wegen der Informationsfülle eher begrenzt ist, besonders schwierig. Die Suche nach Furchtobjekten ist für den Einzelnen gemeinhin beschwerlich und nicht selten erfolglos. Die Folge: Es besteht eine vorerst unbefriedigte, mehr oder weniger grosse Nachfrage nach Furchtobjekten. Ist dem aber so, dann mag es für einzelne Gesellschaftsmitglieder lohnend sein, als Anbieter von Furchtobjekten, das heisst von konkreten Bedrohungen aufzutreten: Ein Journalist, der vor dem Strahlungsrisiko bei Handys warnt, kann – wortwörtlich – in die Schlagzeilen kommen; ein Politiker, der «die» Ausländer als konkrete Gefahr glaubwürdig darzustellen vermag, kann es zu etwas bringen; ein Pharmaunternehmen, das den Mangel an Vitaminen als Gefahr für Leib und Leben vermitteln kann, mag sein Geschäftsergebnis verbessern, und ein Guru, der das «falsche» Atmen als «die» Gefahr darzustellen vermag, hat ohne Zweifel ausgebuchte und teuer honorierte Meditationsseminare. In ihrer Angst angesichts einer für sie weitgehend undurchschaubaren Welt entwickeln die Menschen demnach ein bestimmtes Appetenzverhalten, das als Nachfrage nach Furchtobjekten ausgelebt wird.

Süchtig nach Furchterregendem

Betrachtet man vor diesem Hintergrund, wie wir in unserer Gesellschaft mit der Angst und der Furcht umgehen, so zeigt sich: Die latente Angst scheint sehr gross zu sein. Wie anders liesse sich die grosse Bereitschaft erklären, fast jedes Furchtobjekt als solches zu akzeptieren: So konnten jüngst viele an sich selbst erleben, wie die statistisch verschwindend kleine Gefahr, durch den gelegentlichen Verzehr von Filetsteaks an Creutzfeldt- Jakob zu erkranken, zu einer, nein geradezu zu der konkreten Bedrohung gemacht worden ist. Man konnte schon den Eindruck haben, dass es für viele (fast) lustvoll entlastend gewesen ist, endlich die Angst vor etwas Unbestimmtem gegen die Furcht vor etwas Bestimmtem eintauschen zu können: Endlich wusste man, was man tun konnte, um einer vorher diffusen Bedrohung zu begegnen: Man verzichtete auf den Genuss von Rinderfilets. Wir fürchten uns vor dem Leuchtwecker neben unserem Bett, vor der Zahnpaste in unserem Badezimmer, vor dem T-Shirt an unserem Körper, vor unserem Flug nach Mallorca usw. Scheute man nicht vor einer gewiss vereinfachenden Übertreibung zurück, so möchte man sagen: Viele von uns sind von derart grosser Angst getrieben, dass sie geradezu furchtsüchtig sind und ihnen fast alles und jedes als Furchtobjekt «verkauft» werden kann.

Schneller als die Mode Auch fällt auf, dass die Gegen- und Tatbestände, die Dinge und Personen(gruppen), vor denen wir uns fürchten, sich in schneller Folge ablösen. Fast schneller als die Mode wechseln die Objekte, vor denen wir uns fürchten. Eine Erklärung hierfür dürfte besonders plausibel sein: Wir fürchten dies bzw. jenes, um der Angst zu entgehen. Doch erweisen sich die einzelnen Furchtobjekte gemeinhin auf die Dauer als ungeeignet, die Angst vollends zu neutralisieren. Bildschirme sind eben nicht derart gefährlich, wie wir offen befürchtet und – insgeheim – gehofft hatten. Die auf die Monitoren bezogene Furcht kann einfach nicht so gross sein, dass sie all unsere Angst absorbiert. Obschon wir uns vor Bildschirmen, Filetsteaks, Zahnpasta, BSE bzw. vor dem Fliegen fürchten, haben wir immer noch Angst. Und so sind wir bereit und getrieben, nach immer neuen Objekten zu suchen, die – so unsere Hoffnung – derart furchtbar sind, dass sie alle Angst auffangen können. Und weil wir keine solchen Furchtobjekte finden, bleibt unsere Gier lebendig.

An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass es neben der Angst vor der undurchschaubaren Gefährlichkeit der Welt das Vertrauen in die gleichfalls undurchschaubare Menschenfreundlichkeit der Welt gibt. Beide – die Angst und das Vertrauen – können, müssen aber nicht in je unterschiedlicher Stärke die Gefühlslage eines Menschen bestimmen. Wenn nun in einer konkreten Situation die Angst stärker als das Vertrauen ist, dann kann erwartet werden, dass die Nachfrage nach Furchterregendem grösser ist als die Nachfrage nach Projekten und Vorhaben, die man mit Zuversicht angehen kann. Entsprechend dürfte es in dieser Situation für die Anbieter – Gurus, Journalisten, Wissenschafter, Unternehmer, Politiker – attraktiver sein, auf diese Nachfrage mit einem Angebot zu reagieren.

Die Welt der Ungewissheit

Anders ausgedrückt: Die Angst ist die Kraft, die einen – wortwörtlich – furchterregenden Markt antreibt. Und je grösser die Angst, desto florierender der Markt. Der schnelle Wechsel von einem Furchtobjekt zum nächsten, von Leuchtweckern und Handys über Gummibärchen zu al- Kaida und Margarine ist als ein Ausdruck unserer geradezu verzweifelt-gierigen und immer wieder frustrierten Anstrengungen zu deuten, unserer Angst dadurch Herr zu werden, dass wir sie in Furcht umsetzen.

Der Befund ist düster. Man kann sich fragen, ob er unausweichlich ist. Zu vermuten ist, dass die Angst der Preis dafür ist, dass wir hinfort in einer Welt leben, in der, weil fast alles möglich ist, fast nichts mehr sicher ist. Die Frage, ob wir in die alte Enge der sicheren Gewissheiten und der vorgezeichneten Bahnen zurückkehren wollen, ist müssig: Es führt kein Weg zurück. Und damit bleibt die Angst; es bleibt auch die Notwendigkeit, sie im Privaten und im Gemeinwesen zu bewältigen, nicht aber, sich von ihr überwältigen zu lassen. Der hier unternommene kühle Blick auf die Logik der Angst und der Furcht mag dabei helfen.

Furcht vor «Abstraktionen»

G.K. Eine besonders häufig zu beobachtende Praxis ist das immer wieder wiederholte Bemühen, abstrakte Begriffe als konkrete Aktoren und konkrete Ursachen zu fürchten. So wird gegenwärtig nicht selten «die» Globalisierung als eine Gefährdung angesehen und gefürchtet, die es zu bekämpfen gilt bzw. gegenüber der man sich abkapseln, vor der man also fliehen sollte. Man kann geradezu sagen, dass hier die diffuse Angst vor einer unbestimmten Bedrohung in die Furcht vor einem bestimmten, wenn auch reichlich unpräzisen Begriff umgewandelt worden ist. Eine Variante der Praxis, in Abstraktionen konkrete Objekte zu fürchten und zu fliehen bzw. zu bekämpfen, besteht in der immer wieder zu beobachtenden Praxis, nur scheinbar identifizierte Gruppen von Menschen als Bedrohung anzusehen: «die» Jesuiten, «die» Juden, «die» Muslime, «die» Freimaurer, «die» Homosexuellen, «die» Ausländer usw. Man fürchtet hier nicht bestimmte bedrohliche Einzelne, ja man fürchtet nicht einmal eine konkrete, klar definierte Gruppe von Menschen. Vielmehr fürchtet man hier recht eigentlich einen Begriff. Was nicht ausschliesst, dass man in der Folge auf einzelne Muslime einschlägt bzw. dass man sich weigert, mit einzelnen Muslimen im gleichen Flugzeug zu reisen. In Hitlers Deutschland wurden sehr wohl als Personen identifizierbare Juden ermordet, weil es galt, «das» Judentum, also einen abstrakten Begriff, zu bekämpfen. Es wird allerdings auch berichtet, dass manche von jenen, welche «die» Juden fürchteten und hassten, einen jüdischen Freund hatten.

So abstrus es auf den ersten Blick für den nicht unmittelbar beteiligten Beobachter auch sein mag, dass jemand sich vor Abstraktionen fürchtet, so verständlich erweist es sich bei näherem Hinsehen. In der Tat: Da der Einzelne – siehe oben – eher damit umgehen kann, dass er sich fürchtet, als dass er Angst hat, ist er bereit, jenes, was ihm glaubwürdig als Bedrohung vor Augen geführt wird, auch zu fürchten, zu fliehen bzw. anzugreifen. Dies können Abstrakta sein. Sie werden es dann eher sein, wenn der Druck der Angst hinreichend gross ist; sie werden es auch dann eher sein, wenn es jemandem – etwa einem Demagogen – gelingt, die abstrakten Begriffe als konkrete Gefährdung darzustellen


* Der Autor ist Professor für Nationalökonomie an der Universität Freiburg i. Ü., wo er am Seminar für Neue Politische Ökonomie wirkt.

NZZ 8./9. Juni 2002, Seite 29

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