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Enttäuschte Erwartungen – ein Anstoss zum Lernen

(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 2002 – Seite 3)

ZU GAST

Dr. Rainer Hank leitet die Wirtschafts- und Finanzredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Liberale werden nicht müde, die Offenheit der Zukunft immer wieder zu betonen. Die institutionellen Arrangements in einer Welt der Unsicherheit und des Unwissens lassen der Freiheit den grösstmöglichen Raum: «Versuch und Irrtum» heisst dieses Arrangement in der Sprache Poppers. «Eine Marktordnung als Entdeckungsverfahren» ist es in der Sprache Hayeks. Es sind beidesmal Warnungen, die Offenheit des Wettbewerbs nicht mit Planung und anmassendem Wissen zuzuschütten. Dahinter steckt die Überzeugung: Man kann den Menschen die Freiheit nicht auferlegen; man kann aber Bedingungen schaffen, unter denen sie die Möglichkeit haben, ihr Schicksal selbst zu gestalten. Die Freiheit selbst fordert von uns, die Zukunft offen zu halten.

Als ob soviel Freiheit nicht schon genug Angst macht. Jetzt freilich kommt einiges hinzu: Der weltweite Sturz der Aktienmärkte, die Bilanzskandale der amerikanischen Unternehmen und eine tiefe Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Konjunktur versetzen viele Menschen in Sorge über die Zukunft. Das Attentat am 11. September war nicht nur ein Angriff auf den amerikanischen Kapitalismus. Es war ein Angriff auf das Selbstverständnis der liberalen Welt. Angst war bisher unter klassisch Liberalen kein Thema. Dafür mag es Gründe geben: Womöglich haben die Konservativen die Angst gepachtet, die ihnen zur Legitimation dafür dient, jeglicher Veränderung abzuschwören? Womöglich lieben die Sozialisten den Plan gerade deshalb so sehr, weil er ihnen eine Versicherung gegen die Fährnisse der offenen Gesellschaft zu sein dünkt? Es kann schon sein, dass die Strategien der Konservativen wie der Sozialisten falsche Antworten auf die Angst sind. Angst ist kein guter Ratgeber, das dürfte freilich kein Grund sein, sie zu verdrängen.

Erste Schritte zu einem unverkrampften Umgang mit der Angst wurden jüngst an einem Kolloquium der liberalen Progress Foundation über das Thema «Angst in Wirtschaft und Gesellschaft» unternommen. Am Ursprung der Freiheitsgeschichte steht die Angst zu scheitern. Kierkegaard hat schon vor den Existentialisten des 20. Jahrhunderts darauf aufmerksam gemacht, dass das Geheimnis der unschul¬ digen Unwissenheit, Ursprung jeglichen wettbewerblichen Entdeckungsverfahrens, die Angst ist. Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit für alle Möglichkeiten. Freiheit ohne Angst gibt es nicht. Im Nachhinein sehen wir, dass der Optimismus der kreativen Gründer der späten Neunzigerjahre blind war. Damals hatte offenbar niemand einen Grund, über die Angst zu reden. Dabei hätte die Angst den blinden Optimismus in Skepsis überführen können: Warnen vor dem Glauben an ein Ende aller Konjunkturzyklen. Heute sind wir durch das schmerzhafte Spiel von Versuch und Irrtum wieder ein Stück weiter: ein Lernprozess durch enttäuschte Erwartungen.

Gäbe es die Möglichkeit zu scheitern nicht, wäre Macht ein für allemal verteilt.

Wenn die Liberalen jetzt beginnen, über Angst zu reden, können sie das Modell der offenen Gesellschaft schärfen: Denn der Wettbewerb selbst ist ein Arrangement, welches die Angst zu zähmen vermag und sie gerade deshalb nicht leugnen muss. Der Wettbewerb privilegiert keinen und teilt jedermann Chancen zu, sich im fairen Verfahren durchzusetzen. Freiheit ohne Angst gibt es nicht, weil Offenheit ohne die Möglichkeit zu scheitern nicht gedacht werden kann. Eine Welt des Wettbewerbs, die über Versuch und Irrtum lernt, lässt freilich die Möglichkeit zu scheitern gerade zu. Niemand scheitert endgültig; jeder erhält seine zweite (dritte, vierte) Chance. So zeigt das Scheitern sein humanes Gesicht: Gäbe es die Möglichkeit zu scheitern nicht, wäre Macht ein für allemal verteilt — eine starre, keine offene Gesellschaft. Keiner hätte die Chance des neuen Marktzutritts: eine ungerechte Gesellschaft. Die Angst vor der Freiheit (zu scheitern) wird durch die legitime Möglichkeit zu scheitern entdramatisiert. Auf diese Weise wird die Zukunft in die Haltung eines skeptischen Optimismus getaucht. Liberale, welche die Angst kennen, wären reifer geworden.

Schweizer Monatshefte – Heft 9, 2002 – Seite 3

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