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Die Suche nach der liberalen Mitte

(NZZ – WIRTSCHAFT – Donnerstag, 14. April 2016, Seite 27)

Anmerkungen zu Wilhelm Röpkes Modernität. Von Gerhard Schwarz

“Heuer sind es 50 Jahre her, dass einer der bedeutendsten Liberalen und Ökonomen des 20. Jahrhunderts, Wilhelm Röpke, gestorben ist. Anlass genug, sich mit einigen Facetten dieses für die Schweiz wichtigen Denkers auseinanderzusetzen.

Fluchtartig verliess er 1933 sein Land, um sich einer Verhaftung zu entziehen. Schon 1930 hatte er geschrieben: «Niemand, der nationalsozialistisch wählt, soll später sagen können, er habe nicht gewusst, was daraus entstehen könnte.» Auch unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung nahm der 1899 in der Nähe von Hannover geborene Wilhelm Röpke, der bereits 1924 zum damals jüngsten Professor Deutschlands berufen worden war, kein Blatt vor den Mund. Seine Flucht führt ihn nach Istanbul, wo er bis 1937 als ordentlicher Professor für Nationalökonomie lehrt, und dann bis zu seinem frühen Tode am 12. Februar 1966 ans Institut des Hautes Etudes Internationales nach Genf.

Antinazi und Antikommunist

In der Schweiz darf sich Röpke zunächst wegen des Kriegs als Ausländer nicht öffentlich äussern. Ab etwa 1940 aber wird für ihn dank seiner freundschaftlichen Beziehung zu Willy Bretscher, dem langjährigen Chefredaktor, die «Neue Zürcher Zeitung» (später dann auch die «Frankfurter Allgemeine Zeitung») zu seiner wichtigsten und einflussreichsten Bühne. Sein letzter Artikel in der NZZ erscheint am 13. Februar 1966, einen Tag nach seinem Tod, noch bevor dieser – mit einem Aufmacher auf der ersten Seite des Blattes – am 14. Februar öffentlich gemacht wird.

Röpke, der zunehmend vom ökonomischen Wissenschafter zu einem der angesehensten antikommunistischen Publizisten ganz Europas wird, prägt mit seinen Leitartikeln und noch weiter ausholenden Analysen das liberale Denken in der Schweiz während und nach dem Kriege wie kaum ein anderer Intellektueller. Noch Anfang der 2000er Jahre, in denen der Autor dieser Zeilen die Ehre hat, die Wirtschaftsredaktion der NZZ zu leiten, flattern immer wieder Briefe von Lesern und Leserinnen in die Redaktion, die voller Respekt auf Röpke Bezug nehmen. Viele bringen zum Ausdruck, dass sie Röpke ihre liberale Überzeugung, ihren «inneren Kompass» (so der Titel einer Sammlung von Briefen Röpkes) verdanken.

Empörendes und Altmodisches

Trotzdem ist dieser Mann bis heute umstritten. Vieles trägt dazu bei. Erstens wirkt seine elitäre Haltung, sein Einstehen für eine «nobilitas naturalis», zu der er sich selbstverständlich auch zählt, in einer demokratisierten Welt gelinde gesagt sperrig. Zweitens sind manche seiner Haltungen, etwa seine Unterstützung der Apartheid und seine Ablehnung des Frauenstimmrechts, aus heutiger Sicht empörend. Aber einen Autor, der in einer Zeit gelebt hat, in der viele bedeutende Persönlichkeiten – manchmal unbedacht – heute unverständliche Meinungen vertreten oder zumindest geteilt haben, sollte man vernünftigerweise nicht durch die Brille der Moderne beurteilen. Die Gründungsväter der USA bejahten zum Teil die Sklaverei – und bleiben dennoch Giganten der liberalen Geistes- und Verfassungsgeschichte.

Drittens stolpert man bei Röpke immer wieder über despektierliche und unbesonnene Bemerkungen, vor allem in seinen Briefen und seinen nicht für die Öffentlichkeit gedachten Aufzeichnungen. So attackiert er ob des «Dreckklumpenschmeissens» gegen ihn wegen eines Südafrika-Artikels «diese Mistviecher – auch ‹gelernte Christen›, wie ich sie nenne, . . ., also Pfarrer, die mich vor Jahrhunderten wie Servet verbrannt hätten». Solche Ausbrüche sind, wie Hans Jörg Hennecke in seiner Biografie «Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung» schreibt, «getreues Spiegelbild eines übersprudelnden Temperaments, das durch die Strenge der theoretischen Gedankenführung nur mühsam gebändigt wird». Viertens tragen viele Sympathien und Antipathien, die Röpke hegt, romantische, hoffnungslos veraltete Züge, wie sein Schwärmen für Bauern und Handwerker, für alles Ländliche, oder seine Verurteilung von Comics oder des Kinos als Ausdruck der Dekadenz.

Aber all das schmälert weder seine Bedeutung noch sein Verdienst. Viele seiner zentralen Botschaften sind in der heutigen Zeit, in der die offene, marktwirtschaftliche Gesellschaft seelenlos zu werden droht und in der simple moralische Grundsätze am Verschwinden zu sein scheinen, von Relevanz. Im Zentrum steht dabei der Wertkonservatismus des Liberalen Röpke, seine Verbindung von Markt und Moral. Daraus lässt sich fast das ganze Gedankengut Röpkes erklären.

Nicht bloss «ökonomistisch»

Da ist zunächst die berühmte Einsicht, dass die Marktwirtschaft auf moralischen und kulturellen Grundlagen beruht, die sie nicht selbst hervorbringen kann («Jenseits von Angebot und Nachfrage»), eine Idee, die der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde 1976 öffentlichkeitswirksam mit Blick auf den Rechtsstaat neu formuliert hat. Vor diesem Hintergrund fordert Röpke immer wieder Werte wie Selbstverantwortung, Einfühlungsvermögen, Ehrlichkeit, Treue, Würde, Freundschaft oder Fairness ein. Und er ringt um das rechte Mass, um den Ausgleich, etwa zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Offenheit und Identität, selbst zwischen Freiheit und Bindung. Damit im Zusammenhang steht Röpkes vehemente Absage an jede zu enge, «ökonomistische» Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft. In der berühmten Schrebergarten- Anekdote hält er jenen, die wie Ludwig von Mises die Ineffizienz dieser Form der Gemüseproduktion belächeln, die «Glücksproduktion» entgegen, die in den Kleingärten erfolgt.

Röpke ist zwar Marktwirtschafter durch und durch, aber er ist nicht nur Marktwirtschafter. Effizienz und Wohlstand sind ihm wichtig, aber sie sind nicht dominant. Für die Freiheit wäre er bereit, Wohlstand zu opfern. «Marktwirtschaft ist nicht genug» lautet der vielsagende Titel einer seiner Reden.

Röpkes kritische Haltung gegenüber kollektiven, staatsinterventionistischen und sozialistischen Lösungen hat damit zu tun, dass ihm jede Vermassung zutiefst suspekt ist. Zusammen mit der sie begleitenden Anonymität ist sie für ihn eine Wurzel zunehmender Verantwortungslosigkeit und eines galoppierenden Werteverlusts. Von daher durchzieht sein ganzes Schaffen ein Plädoyer für Föderalismus und Kleinheit bzw. gegen Zentralismus und politische Integration. Was Wunder, dass er als überzeugter Europäer und Gegner chauvinistischer Abschottung trotzdem relativ früh beginnt, an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Kritik zu üben, wo immer er Zentralismus und Nivellierung wittert.

Wertkonservativer Liberalismus

Auch seine Kritik am Wohlfahrtsstaat, dieser «komfortablen Stallfütterung», ist weniger ökonomisch als humanistisch motiviert. Er ist überzeugt – darin nicht unähnlich Friedrich August von Hayek –, dass die staatliche Sozialpolitik die soziale Sicherung in den traditionellen Kleingruppen der Familie und der Nachbarschaft verdrängt und zerstört. Und er befürchtet durch die Erhöhung der Steuerlast im Gefolge des Ausbaus des Sozialstaates eine Zerstörung des Mittelstandes, eine zunehmende Abhängigkeit vom Staat und den Verlust des Freiheitsankers «Privateigentum».

Aus dieser Haltung entwickelt Röpke in vielen seiner Artikel jenen wertkonservativen Liberalismus, der vielen Anfeindungen ausgesetzt ist, schon zu seiner Zeit und heute erst recht. Bei den sich als reine Techniker des Marktes verstehenden Ökonomen ist Röpke verpönt, weil er die Ökonomie nicht als blutleere, wertfreie Wissenschaft versteht. Den radikalliberalen Libertären ist er suspekt, weil seine Suche nach einer liberalen Mitte ihrem Ziel der logischen Konsistenz entgegensteht. Bei den Konservativen finden seine Ideen kaum Rückhalt, weil er zu freihändlerisch, zu marktwirtschaftlich, zu staatsskeptisch argumentiert. Und den Sozialisten in allen Parteien muss er ohnehin ein Greuel sein, weil er sich mit der ganzen Autorität seiner Wissenschaft und mit der Kraft seiner bildhaften Sprache ungeachtet des Zeitgeistes für den Markt, für die Selbstverantwortung, für den Wettbewerb und für das Privateigentum einsetzt. Vielleicht erweist sich diese Einstellung in einigen Jahrzehnten im Rückblick als unglaublich modern.


Gerhard Schwarz wirkte bis Ende März 2015 als Direktor der liberalen Denkfabrik «Avenir Suisse» und war von 1994 bis 2010 Leiter der Wirtschaftsredaktion der NZZ.

NZZ Donnerstag, 14. April 2016, Seite 27

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