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Wider das Laster


(Weltwoche)

Die Schweizer trinken, rauchen, schlemmen und faulenzen zu viel, sie machen sich also angeblich mutwillig krank. Deshalb wollen die Missionare beim Bund das Volk zum gesunden Lebenswandel erziehen. Mit welchem Recht eigentlich?

Von Markus Schär

Jeder ist der Hüter seines eigenen Wohles,
möge dieses Leib, Geist oder Gemüt betreffen.
Die Menschheit hat einen grösseren Gewinn,
wenn sie jeden nach seinem Gutdünken leben lässt,
als wenn sie jeden zwingt,
nach dem Gutdünken der anderen zu leben.

John Stuart Mill: «Über die Freiheit», 1859

«Sie sollten nicht mehr rauchen, kaum noch trinken, weniger süss, salzig und fettig essen», mahnt der Arzt den Patienten, «dann können Sie neunzig werden.» – «Das ist schön, wenn ich neunzig werde», gibt der Patient zurück: «Aber wozu?» Wie der Arzt im Witz tritt der Bund gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern auf. Von den 15- bis 50-Jährigen fühlen sich zwar neunzig Prozent völlig gesund, von den 50- bis 75-Jährigen immer noch drei Viertel, wie der Gesundheitsbericht 2015 festhält. Gemäss denselben Befragungen gaben aber 32 Prozent an, sie litten an einer chronischen Krankheit oder einem lang dauernden Gesundheitsproblem. Und das Bundesamt für Gesundheit von Innenminister Alain Berset (SP) hält sich nicht lange mit diesem Widerspruch auf: Es kämpft gegen die Krankheiten, indem es die Leute zum gesunden Leben drängt – also zum Verzicht auf vieles, was für die Mehrheit ein gutes Leben ausmacht.

Heute litten in der Schweiz rund 2,2 Millionen Menschen an einem oder mehreren chronischen Leiden, stellt das Bundesamt fest, «und diese verursachen rund 80 Prozent der gesamten Gesundheitskosten». Über die erste Behauptung liesse sich unter Statistikern streiten, die zweite dürfte die Faktenlage wohl treffen. Denn bei den wichtigsten chronischen Krankheiten handelt es sich um Krebs, Diabetes und Erkrankungen der Atemwege sowie von Herz und Kreislauf. Daran sterben auch die meisten Schweizer, weil selbst die Schweizer – die beim guten und langen Leben an der Weltspitze stehen und ihre Lebenserwartung immer weiter steigern – an irgendetwas sterben müssen.

Kampagnen ohne gesetzliche Grundlagen

Weltweit sagen die Gesundheitsapostel, nachdem die grossen Killer der Menschheit, also Seuchen wie Pocken, Grippe, Typhus oder Cholera, besiegt sind, den nichtübertragbaren Krankheiten den Kampf an. In der Schweiz steckten sie zwar 2012 einen Rückschlag ein, als das Parlament das Präventionsgesetz versenkte. Aber das spornte sie nur noch stärker an. Im April verabschiedeten der Bundesrat und die Kantone die «Nationale Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten 2017–2024», und sie beauftragten die vereinigten Missionare, bis Ende Jahr einen Massnahmenplan auszutüfteln. Das Parlament hat dazu nichts mehr zu sagen, geschweige denn das durch die Massnahmen zu erziehende Volk.

Und damit nicht genug: Schon seit Jahren – also ohne Grundlage in Verfassung und Gesetz – führt das Bundesamt seine Kampagnen gegen Alkohol und Tabak, fordert Askese und Fitness mit dem «Nationalen Programm Ernährung und Bewegung» («Die Vision des Programmes ist es, die Bevölkerung zu motivieren, sich ausgewogen zu ernähren und ­genügend zu bewegen») und fördert die Einwanderer mit dem «Nationalen Programm Migration und Gesundheit» («Das Programm bezweckt, das Gesundheitsverhalten und den Gesundheitszustand der Migrationsbevölkerung in der Schweiz zu verbessern»). Überdies sollen neben der umfassenden Strategie gegen die nichtübertragbaren Krankheiten fortan die «Nationale Strategie Sucht» und das Projekt «Psychische Gesundheit» das Volk zum richtigen Verhalten anleiten. Noch strenger als bisher gelten also für die Schweizerinnen und Schweizer die Gebote des amtlich bewilligten guten Lebens:

«Du sollst nicht trinken» – Ein neues Alkoholgesetz, das die Steuern weiter erhöhen und den Verkauf von alkoholischen Getränken zwischen 22 und 6 Uhr verbieten wollte, scheiterte in der Wintersession 2015 im Parlament. Aber das hindert das Bundesamt nicht an seinem Kreuzzug gegen die Blauen: Es führt für jährlich 650 000 Franken die Kampagne «Wie viel ist zu viel?» (täglich mehr als vier Gläser für Männer und zwei Gläser für Frauen). Es treibt Prävention in Berufsschulen oder bei «Familien mit tiefem sozioökonomischem Status». Und es werkelt am Projekt «Erfolgsfaktoren einer kantonalen Alkoholpolitik». Wer gerne ein Glas Wein oder eine Stange Bier trinkt (oder auch zu viel), merkt aber – abgesehen vom Preis – kaum etwas davon: Angesichts der Mehrheitsverhältnisse müssen sich die Missionare damit begnügen, dem Volk hintenherum den Genuss zu vermiesen.

«Du sollst nicht rauchen» – Auch das Nikotin lassen sich die Erwachsenen nicht nehmen. «Jugendliche besser vor den Gefahren des Tabaks schützen», forderte der Bundesrat deshalb: Das neue Tabakproduktegesetz verbietet den Verkauf von Rauchwaren an Minderjährige und sogar Werbung bei Jugendlichen, und es unterscheidet nicht zwischen Tabakwaren und E-Zigaretten. Die Kommission des Ständerates, auf dessen Programm die Vorlage nächste Woche steht, will deshalb das Gesetz dem Bundesrat zurückschicken. Das Bundesamt aber kämpft mit Feuer weiter gegen das Rauchen – wenn nicht mit Verboten, dann halt mit abschreckenden Preisen und Warnhinweisen.

«Du sollst nicht schlemmen» – Das Übergewicht der Schweizer kostet die Krankenkassen angeblich acht Milliarden Franken, dreimal so viel wie noch vor zehn Jahren. Dazu kommen die Kosten, welche die Mediziner auf zu viel Salz, Eier oder Rauchfleisch zurückführen. In der direkten Demokratie trauen sich die Missionare aber nicht, dem Volk offen ins Essen zu spucken: Deshalb gibt es in der Schweiz keine Verbote von Süssgetränken oder wenigstens Steuern auf Zucker oder Fett; die Fürsorge findet heimlich statt. So zieht das Bundesamt seit Jahren seine «Salzstrategie» durch; es drängt die Bäcker zu weniger Salz im Brot, fordert in Kantinen fade Kost oder holt die Menagen zum Nachwürzen von den Beizentischen – ­dabei weisen neue Studien nach, dass das Salz gesunden Menschen gar nicht schadet. Und das ­Bundesamt für Umwelt glaubt, die Schweizer müssten beim Einkaufen und beim Essen die Welt retten: Es liess sich von Fehr Advice, der Firma des renommierten Zürcher Professors Ernst Fehr, eine verhaltensökonomische Studie schreiben, «was den Menschen am meisten helfen würde, um ihr Verhalten hin zu einer ökologisch nachhaltigen Ernährung zu ändern».

Schliesslich kümmert sich das laufende Nationale Forschungsprogramm NFP 69 um «gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion», also etwa um die Frage, «wie Aktivierungen von Gesundheitsmotiven zu einer vermehrten Wahl von gesunden ­Lebensmitteln führen können» – der Reiz kann zum Beispiel eine Waage sein, die in der Kantine steht.

«Du sollst nicht ruhen» – «Je mehr Zeit wir am Tag sitzend verbringen, desto grösser ist das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, Diabetes und Krebs», schreckten die Bundesämter für Gesundheit und für Sport vor einem Jahr die allzu zahlreichen «Bewegungsmuffel» im Land auf. Eine wissenschaftliche Studie zeigte angeblich: «Sitzen gefährdet die Gesundheit.» Damit rechtfertigen die Bundesämter denn auch, dass sie mit allerlei Aktionen die Leute auf Trab bringen wollen, oder dass sie – da ihnen für befohlenen Sport die Gesetzesgrundlagen fehlen – wenigstens mit einem Monitoring-System «wichtige Aspekte der Ernährungs- und Bewegungsproblematik anhand von 54 Indikatoren kontinuierlich beobachten». Die aufwendige Studie zum Sitzen hält übrigens fest: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Sitzdauer und der Gesundheit – ja Menschen, die viel sitzen, fühlen sich sogar wohler, weil sie meist zum Ausgleich Sport treiben.

«Du sollst nicht spielen» – Die Suchtexperten (ohne gesetzlichen Auftrag) im Bundesamt für Gesundheit kämpfen nicht nur gegen Heroin und Haschisch, Alkohol und Nikotin, sondern auch gegen das Geldspiel. Im neuen Gesetz, das sich der Ständerat jetzt vornimmt, forderten sie deshalb auch eine Abgabe für Massnahmen gegen die Spielsucht. Davon wollte die vorberatende Kommission nichts wissen, auch nichts von einer eidgenössischen Kommission zu Fragen des exzessiven Geldspiels. Aber das Gesetz schränkt die Freiheit der Spieler gleichwohl stark ein (siehe Seite 36).

Die Übersicht (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) zeigt: Der fürsorgliche Staat erzieht ­seine Bürger zum richtigen, guten Leben, indem er ihre Laster mit Verboten bekämpft oder zumindest mit Steuern eindämmt. Dieser «harte Paternalismus», wie ihn die Politologen nennen, verträgt sich allerdings schlecht mit einer liberalen Gesellschaft, in der alle mündigen Menschen die Verantwortung für ihren Lebenswandel tragen sollten, und in der Schweiz benötigt er überdies immer eine Volksmehrheit. Deshalb nutzen auch die Fürsorger beim Bund gerne einen Ansatz, den der Ökonom Richard Thaler und der Jurist Cass Sunstein vor fünfzehn Jahren austüftelten, und dies ausgerechnet an der als neoliberal verschrienen Uni Chicago: den «libertären Paternalismus».

Diesen Widerspruch in sich lösen die beiden Sozialingenieure elegant auf. Sie gehen zwar paternalistisch davon aus, dass der Staat besser weiss, was für seine Bürger gut ist, etwa bei der Vorsorge, beim Essen oder beim Energiesparen. Aber sie lassen den Menschen libertär (worunter die Amerikaner das verstehen, was die Europäer als liberal bezeichnen) die Wahl­freiheit. Dabei nutzen sie allerdings die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie, dass der Mensch kaum wie der Homo oeconomicus entscheidet, der jederzeit nach bestem Wissen abwägt, was ihm den grössten Nutzen bringt. So ziehen die real existierenden Leute die Lösung vor, bei der sie nichts tun müssen (Default): Sie scheuen also den Aufwand, nach dem Salzstreuer zu rufen, wenn er nicht auf dem Tisch steht. Oder sie treffen eine Entscheidung danach, wie sie ihnen dargestellt wird (Framing): Sie essen darum gesünder, wenn in der Kantine der Salat zuvorderst steht. Die vermeintliche Freiheit der Wahl lässt sich also sanft beeinflussen: mit einem nudge (Stupser), wie das berühmte Buch von Thaler und Sunstein heisst.

Welches Menschenbild?

Die Tricks funktionieren, deshalb setzen die Regierungen zunehmend darauf. Präsident Barack Obama holte Cass Sunstein als «Regulierungs­zaren», also als obersten Hüter der Gesetzgebung. Der britische Premier David Cameron liess Richard Thaler ein Team aufbauen, um Erkenntnisse der Verhaltensökonomie anzuwenden. Und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel möchte mit dem sozialwissenschaftlichen Werkzeugkasten «die Deutschen zu Musterbürgern machen», wie die Welt spottete.

Woher aber nehmen die Regierungen und Verwaltungen von Washington bis Bern das Recht, die Bürger so zu beeinflussen, also – wie die Kritiker meinen – zu manipulieren? Das fragt auch der Gralshüter des Liberalismus in der Schweiz, Gerhard Schwarz. Mit der Progress Foundation, die er präsidiert, führte er deshalb ein Kolloquium zum «libertären Paternalismus» durch. Im Zentrum stand ­dabei die Frage: Von welchem Menschenbild gehen eigentlich die Paternalisten aus, ob sie nun harte oder weiche, also «libertäre», sind? «Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, ist die, in der wir unser Bestes auf ­unsere eigene Weise erstreben können, solange wir dabei den andern ihr Bestes nicht zerstören oder sie in der Erlangung dessen verhindern», schrieb 1859 einer der tiefsten liberalen ­Denker, der Engländer John Stuart Mill – ­übrigens zusammen mit seiner Frau Harriet Taylor, wie eine Kolloquiumsteilnehmerin, die Heidelberger Soziologin Ulrike Ackermann, in ihrer deutschen Neuausgabe erstmals betont. Das heisst: Die Menschen können frei über ihren Lebenswandel befinden, solange ihre Entscheidungen keine anderen Menschen betreffen.

Da setzen die Fürsorger in den Bundesämtern an: Die rund 30 Milliarden Franken, welche das Behandeln von Krebs, Diabetes sowie Atemweg- und Kreislauferkrankungen angeblich kostet, muss via Prämien und Steuern die Allgemeinheit zahlen. Also, meinen die Missionare, dürfe der Staat den Bürgern zumindest empfehlen, wie sie mit gesundem Leben die Kosten vermindern. Allerdings stellt sich immer noch die Frage, ob sie die richtigen Ziele stecken und die richtigen Wege dorthin wählen. Wenn beispielsweise wissenschaftlich erwiesen wäre, dass Rauchen das Lungenkrebs­risiko dramatisch erhöht, dann müsste es der Bund eigentlich verbieten. Die Wissenschaft steht aber kaum je fest; die Warnungen der WHO wandeln sich wie die Mode, und die Gefahren des Salzes oder des Sitzens gibt es schlicht nicht. Das hindert die Missionare nicht daran, weiter an ihrer Salzstrategie oder ihrem Bewegungsmonitoring zu werkeln.

Und selbst wenn feststünde, dass sein Leben mutwillig verkürzt, wer ein paar Gläser zu viel trinkt oder lieber auf dem Sofa liegt als auf der Finnenbahn rennt, darf ein liberaler Staat dem Bürger keine Vorschriften machen, sofern ­dieser die Folgen selber trägt. Denn im liberalen Staat entscheidet der Einzelne über seine Präferenzen. «Warum sollen wir während des Studiums auf freudenreiche Laster verzichten, weil sie das Leben verkürzen, nur um damit ein paar todlangweilige Jahre im Greisenalter zu gewinnen?», fragt der Jurist Gregory Mitchell in seinem Nachweis, dass «libertärer Paternalismus» tatsächlich ein Widerspruch in sich ist.

Und John Stuart Mill meinte schon vor 157 Jahren, die Gemeinschaft dürfe nur Macht über den Einzelnen ausüben, um damit Nachteile für die anderen zu verhindern: «Er kann nicht rechtlich gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es besser für ihn wäre.»

Quelle: https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2016-22/hintergrund/wider-das-laster-die-weltwoche-ausgabe-222016.html

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