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Der grosse Vorteil von kleinen Staaten

(NZZ – SACHBÜCHER – Donnerstag, 13. Juli 2017, Seite 40)

Trotz Brexit geht der Trend in Europa hin zu einer immer enger zusammenrückenden EU. Dabei haben eigenständige kleine Staaten ökonomisch viele Vorteile. Sollte Europa daher den globalen Mächten mit einer neuen Kleinstaaterei entgegentreten?

Von Michael Rasch

«Small is beautiful», fand bereits der britische Ökonom Ernst Friedrich Schumacher, der 1973 in seinem gleichnamigen Weltbestseller die Rückkehr zum menschlichen Mass forderte. Noch treffender könnte man titeln: «Small is successful », jedenfalls mit Blick auf kleine Staaten gegenüber ihren grossen Konkurrenten. Unter den zehn wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt befanden sich dieses Jahr neun Klein- oder Kleinststaaten. An der Spitze des vom Lausanner Managementinstitut IMD herausgegebenen Rankings rangierten Hongkong, die Schweiz und Singapur. Mit den USA schaffte es die erste Grossmacht nur auf Platz vier. Von den grossen europäischen Staaten erreichten mit der Wettbewerbslokomotive Deutschland auf Platz 13 und Grossbritannien auf Rang 19 nur zwei die Top 20. Sind kleine Staaten einfach besser und vor allem erfolgreicher als Grossmächte?

Globaler Gigantismus

Was politisch noch angezweifelt werden mag, scheint aus ökonomischer Warte angesichts der vielen Wirtschafts-Ranglisten mit Kleinstaaten auf den vordersten Plätzen evident. Das hat gerade heutzutage eine hohe Sprengkraft, denn die Kenntnis von Erfolg und Robustheit der Kleinstaaten läuft einer zentralen These von EU-Befürwortern und Euromantikern diametral entgegen, nämlich, dass der immer engere Zusammenschluss der europäischen Staaten in einer Welt der Globalisierung zwingend notwendig ist, damit sich diese unter den globalen Grossmächten behaupten können, da dazu selbst Europas grosse Nationen Deutschland, Grossbritannien und Frankreich nicht bedeutend genug sind. Das gilt laut den Vertretern dieser These wohl umso mehr in einer Zeit, in der die USA die Ellbogen sogar gegen Verbündete ausfahren, Russland militärisch neue Kraft gewinnt und sich China politisch und ökonomisch einen immer besseren Platz auf der Weltbühne sichern will.

Doch wäre die klügere Reaktion im Spiel der Grossmächte nicht eine Hinwendung zur erfolgreichen Kleinstaaterei, statt beim globalen Gigantismus mitmischen zu wollen? Für die Ökonomen Andreas Marquart und Philipp Bagus ist die Antwort eindeutig: «Wir schaffen das – alleine!», schreiben sie in ihrem unlängst erschienenen gleichnamigen Buch und erläutern darin überzeugend, dass kleine Staaten stabiler und näher bei den Menschen sind, weniger Bürokratie und dafür mehr politischen Wettbewerb produzieren sowie dem friedlichen Zusammenleben der Menschen besser dienen.

Die Autoren betrachten die Themen aus dem Blickwinkel des Individuums, was Politiker, nicht nur in Brüssel, eben häufig gerade nicht tun. Der wichtigste Wert der europäischen Kultur ist für sie die individuelle Freiheit. Eigentumsund Freiheitsrechte, die nirgendwo sonst auf der Welt so gut gedeihen konnten, seien die Basis für die Überwindung der Massenarmut durch die industrielle Revolution gewesen. Und aus der freiheitlichen Fragmentierung habe sich die charakteristische Vielfalt in Europa ergeben. Von diesem Europa der Vielfalt und dem daraus resultierenden Wettbewerb gingen musikalische, künstlerische, literarische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Innovationen aus, die die ganze Welt veränderten.

Doch dieses Europa der Vielfalt sehen sie in Gefahr durch eine Europäische Union, die für Zentralisierung und Harmonisierung steht, wogegen Kleinstaaten zwecks Erhalt von Wohlstand und Prosperität zu Dezentralität und Wettbewerb geradezu gezwungen sind. In kleinen Ländern sind letztlich die Auswirkungen schlechter Politik schneller und unmittelbarer sichtbar, weil Dezentralität einen engeren Kontakt zu den Bürgern ermöglicht, ja diesen förmlich sichert, während er in grossen Verwaltungsstrukturen vollständig verloren geht. Dafür dürfte die EU dieser Tage ein perfektes Beispiel sein, was sich schliesslich im beschlossenen Austritt Grossbritanniens sowie in der Unzufriedenheit vieler Bürger in fast allen Mitgliedstaaten mit «denen» in Brüssel spiegelt.

Immer mehr Menschen in Europa scheinen der Ansicht zu sein, dass die Ziele der Brüsseler Bürokratie – etwa Machtstreben, Verhinderung von Wettbewerb und Gleichmacherei – mit den Interessen der Bürger in den verschiedenen Ländern und Regionen nicht vereinbar sind und die Menschen auf der Strecke bleiben. Wenn man dies, wie die EU-Skeptiker, konsequent zu Ende denkt, reichen ein Stopp und eine Umkehr des Integrationsprozesses nicht aus. Dann muss die Desintegration viel weiter gehen.

Die Schweiz als Gegenentwurf

Das schwenkt den Fokus auf die Schweiz, die sich in den Augen von manchem Einwohner eher als ein föderalistischer Bund von kantonalen Kleinstaaten als eine einheitliche Nation versteht. Sie ist eindeutig der Gegenentwurf zur EU und sitzt im Herzen Europas wie ein Stachel im Fleisch der Brüsseler Beamten – umzingelt von EU-Staaten. Die Eidgenossenschaft ist wohl selbst in den Augen vieler EU-Freunde eine unabdingbare Mahnung, wie erfolgreich konträre Modelle sein können.

Ob der Kleinstaat Schweiz ein Auslauf- oder ein Erfolgsmodell ist, wird die Geschichte weisen. Derzeit deutet fast alles auf Letzteres hin. Zu diesem Urteil kommen überwiegend auch die Autoren des Buchs «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?», einer von Konrad Hummler, Franz Jaeger und der Progress Foundation herausgegebenen Aufsatzsammlung, in der ebenfalls der Charme der kleinen Einheit herausgearbeitet wird.

In Kleinstaaten ist beispielsweise in fast jeder Gegend die Grenze nah. Das erleichtert den Bürgern in einer freien Gesellschaft den «Exit». Je kleiner die Einheiten sind, desto leichter kann man den Staat wechseln. So wird der Bürger im Idealfall zum umworbenen Kunden, der jederzeit den Anbieter staatlicher Leistungen tauschen kann. Landesgrenzen zeigen auch den Politikern die Grenzen auf – und begrenzen ihre Bedeutung. Den Schweizer Bundespräsidenten kennt im Ausland kaum jemand, und selbst mancher Schweizer weiss nicht, wer das Amt gerade innehat. Direkte Demokratie und Eigenverantwortung der Bürger sorgen dafür, dass er sich nur begrenzt einmischen kann. In anderen Ländern mischen sich Politiker gewaltig ein – und deshalb kennt man sie auch.

Nachteile von Kleinstaaten lassen sich oft durch Kooperation ausgleichen, etwa bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern. So könnten die Niederlande und ein unabhängiges Niedersachsen eine gemeinsame Deichlinie bauen, und unabhängige Kleinststaaten könnten sich gemäss dem Beispiel der Hanse auch zur Verteidigung zusammenschliessen.

Zerschlagung von Grossmächten

Die Ideen der Autoren sind nicht neu, sondern werden, meist im kleinen Kreis, seit Jahrzehnten diskutiert. So forderte der Österreicher Leopold Kohr bereits 1941 in seinem Aufsatz «Disunion now» die Zerschlagung von Grossmächten. Der Text war die Basis für das 1957 erschienene Werk «The Breakdown of Nations». Der Nationalökonom und Politik-Philosoph war der Meinung, dass Grösse ein zentrales Problem sei und es deshalb grosse Einheiten zu zerschlagen gelte. Kohr war ein Befürworter einer Kleinstaaten-Welt und eines Europas der Regionen. So meinte er, dass man allein Frankreich in acht solche Regionen zerteilen könnte, Italien in sechs und Spanien in fünf.

Als seinen wichtigsten Lehrer hatte der 1994 verstorbene Kohr den eingangs erwähnten Ernst Friedrich Schumacher bezeichnet, der mit seinem Buch «Small is beautiful» weltweite Berühmtheit erlangte. Kunst und Können der Kleinstaaten sind aktueller denn je angesichts einer EU, die sich trotz dem Warnschuss Brexit im wahrsten Wortsinn noch immer im «Grössenwahn» befindet.


Andreas Marquart, Philipp Bagus: Wir schaffen das – alleine! Warum kleine Staaten einfach besser sind. Finanzbuch-Verlag, München 2017. 160 S., Fr. 21.90.
Konrad Hummler, Franz Jaeger (Hrsg.): Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell? NZZ Libro, Zürich 2017. 374 S., Fr. 49.–.

NZZ 13. Juli 2017, Seite 40

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