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Es fehlt am Mut zur Selbstkritik

(NZZ – MEDIEN – Samstag, 18. Mai 2019, Seite 9)

Journalisten haben heute ein Glaubwürdigkeitsproblem. Dagegen hilft nur eine offensive Fehlerkultur

SUSANNE GASCHKE

Wer sind die Leser, die keine Zeitung mehr kaufen wollen, die online vor allem auf die reisserischsten Überschriften klicken, die die Medien inzwischen gern als Lügenpresse bezeichnen, sich aber selbst oft von Fake-News oder Verschwörungstheorien beeindrucken lassen?

Die repräsentative Mainzer «Langzeitstudie Medienvertrauen» (2019) hat sich diesen Lesern, Zuschauern und Nutzern genähert. Sie stellt eine zunehmende Entfremdung fest. 2017 stimmten 18 Prozent der Deutschen der Aussage zu: «Die Medien haben den Kontakt zu Menschen wie mir verloren.» Ein Jahr später, 2018, meinten dies bereits 27 Prozent. Das ist eine dramatische Steigerung. 2017 stimmten 36 Prozent der Aussage zu: «In meinem persönlichen Umfeld nehme ich die gesellschaftlichen Umstände ganz anders wahr, als sie von den Medien dargestellt werden.» 2018 waren es 43 Prozent.

Und nur 25 Prozent glauben, dass die mediale Berichterstattung zu Islam und Flüchtlingskriminalität den Tatsachen entspricht. Das heisst: Drei Viertel teilen diese Ansicht nicht. Zum Trost für alle Angehörigen traditioneller Medien: Es halten auch nur 21 Prozent der Nutzer Internet-Suchmaschinen für glaubwürdig. Und nur 4 Prozent glauben angeblich den Nachrichten, die sie aus sozialen Netzwerken beziehen.

Dafür entfalten diese sozialen Netzwerke allerdings eine erstaunliche Wirkung im realen Leben – egal, ob es um Wahlentscheidungen, Mobbing, Kampagnen gegen missliebige Journalisten und Wissenschafter oder Strassenschlachten von verfeindeten Influencer-Fans geht. Wir haben es zunehmend mit einer Gesellschaft zu tun, in der sich jeder seine eigene Wahrheit zurechtmacht.

Politisch-mediale Klasse

Diese radikale subjektivistische Wende geht einher mit einer sich vergrössernden Kluft zwischen Nicht-Politikern und Politikern. Kein Journalist sollte sich etwas vormachen:In denAugen der Enttäuschten und Misstrauischen sind Medien und Politik nur die zwei Seiten derselben Medaille. Wir Journalisten werden als Teil der politisch-medialen Klasse wahrgenommen; rührt man noch die Hochschullehrer hinein, sind das «die Eliten», gegen die Populisten zu Felde ziehen.

Den Mitbürgern, Lesern, Zuschauern, Nutzern ist allerdings auch nur begrenzt zu trauen – jedenfalls ist ihnen kaum noch zuzutrauen,dass sie sich konzentriert und in die Tiefe gehend informieren. Zweieinhalb Stunden am Tag halten erwachsene Deutsche den Blick auf ihre digitalen Endgeräte gesenkt. Bei 18-Jährigen sind es viereinhalb Stunden täglich. Das sind zwei bis drei Arbeitstage proWoche.

In dieser Zeit wird zwar – zum Teil – auch etwas gelesen oder geschrieben, aber es sind eher Instagram-Botschaften als historische Abhandlungen. Die Folge ist klar: Das Lesen langer Texte wird zur Qual, und das gilt nicht nur für politische Artikel, sondern auch für Literatur. Eltern echauffieren sich mittlerweile, wenn ihre Kinder einen ganzen Roman im Unterricht lesen sollen.

Gerade junge Leute fremdeln mit Büchern und Zeitungen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Interessen der 14- bis 29-Jährigen, die das Institut für Demoskopie Allensbach seit Jahren ermittelt, sich kontinuierlich verengen: Nicht nur Politik und Wirtschaft stossen auf wenig Neugier, auch Literatur, bildende Kunst und klassische Musik werden immer weniger wahrgenommen. Womit man sich beschäftigt, das sind Fragen zu Familie und Partnerschaft, Selbstoptimierung und Karriere, Mode und Digitalthemen.

Hypermoralische Haltung

Es gibt allerdings auch manche guten Gründe für das Publikum, dem Journalismus unserer Zeit mit Skepsis zu begegnen. Unsinn sind dabei alle Verschwörungstheorien, die von einer Art «Gleichschaltung» der Leitmedien zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage ausgehen. Das ist ein Märchen. Allenfalls gibt es eine generelle Tendenz zu einer Art Selbstgleichschaltung, weil die Auflagenangst der Chefredakoren zu einer Themenkonvergenz führt. So entsteht der Eindruck, dass alle das Gleiche schreiben. Aber das eigentliche Problem liegt woanders: Bei vielen Journalisten hat sich in den vergangenen dreissig Jahren eine ungute Haltung herausgebildet, ein Hang zur Besserwisserei und zum hypermoralischen Schiedsrichtertum.

Ich halte das für eine Folge der Überwindung des Systemkonflikts. In den ideologischen Zeiten des Kalten Krieges waren auch Journalisten oft politisch kenntlich und dem linken oder dem rechten Lager zuzuordnen. Dem Leser oder Zuschauer traute man damals das Urteilsvermögen zu, die Qualität dieser politisch verortbaren Berichterstattung selbst zu bewerten und sie entweder zu mögen oder nicht zu mögen.

Doch mit den Phantasien vom Ende der Geschichte machte sich die Fiktion einer «objektiv richtigen», quasi wissenschaftlich ermittelbaren Wirtschafts- und Sozialpolitik breit – und parallel dazu die Vorstellung, es gebe einen «neutralen », «objektiv richtigen» Journalismus. Das war natürlich eine falsche Annahme, denn (da lagen die Achtundsechziger einmal nicht verkehrt) jeder Mensch hat nun einmal erkenntnisleitende Interessen, die seinen Blick auf die Welt prägen.

Doch die Journalisten fingen an, selbst an ihre vermeintliche Neutralität zu glauben – und in Verbindung damit entwickelte sich eine Überheblichkeit, die manchmal nur schwer zu ertragen ist. Diese latente Hoffart der ja nur selbst ernannten, demokratisch durch nichts legitimierten Schiedsrichter hatte bereits angefangen, die Leute zu ärgern, bevor die Ankunft des Internets und die daraus folgenden Disruptionen die Journalisten in Panik und Existenzangst versetzten.

Das «Spiegel»-Problem

In kaum einem anderen Berufsstand gibt es eine so schlechte Fehlerkultur, eine so unterentwickelte Fähigkeit zur Selbstkritik, eine solche Mimosenhaftigkeit und einen derartigen Korpsgeist, wenn ein Medium angegriffen wird. Journalisten, die fast die Existenz von Menschen vernichten, entwickeln Herzrhythmusstörungen, wenn der Chefredaktor sie schief anguckt.

Der «Spiegel», in vielerlei Hinsicht eins der weniger subtilen deutschen Blätter, hat das im Fall des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff exemplarisch vorgeführt. Dass man sich mit keinem Wort für die weitgehend substanzlose Berichterstattung entschuldigte, versteht sich von selbst – das haben die wenigsten Redaktionen getan.

Doch auch als Wulffs Buch «Ganz oben, ganz unten» erschien, in dem er, wie ich finde: ziemlich zurückhaltend, die brutale Skandalisierung seiner Person schildert, sah beim «Spiegel» niemand Anlass zur Nachdenklichkeit. Im Gegenteil: Drei «Spiegel»-Redaktoren, die auf ihrer Seite keinerlei Fehlverhalten erkennen konnten, rückten zum Interview mit einem Ex-Präsidenten an.

Im Editorial zu diesem Verhör schrieb ein Kollege empört: «Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird?» Nach all dieser Zeit finde ich immer noch: ein unfassbarer Satz. Absolut jeder Berufstätige – Politiker, Zugbegleiter, Hals-Nasen-Ohren- Arzt, Lehrer, Rechtsanwalt oder Friseur – muss es ertragen, dass die Qualität seiner Arbeit auch und gerade von Betroffenen beurteilt wird. Aber für Journalisten, nur für Journalisten, soll das nicht gelten?

Dann kam auch noch Claas Relotius. Dessen moralisierende, vor allem aber: ausgedachte Geschichten waren natürlich Wasser auf die Mühlen all derjenigen, die sowieso überzeugt sind, dass «wir» von der Lügenpresse entweder unsere Geschichten erfinden oder aus dem Kanzleramt ferngesteuert werden. Insofern war der ganze Vorgang ziemlich schlecht für die ganze gebeutelte Branche.

Besonders interessant war aber, wie der «Spiegel» mit der Sache umging: Natürlich gab es die allerdollste, schonungsloseste Aufklärung, die man sich hätte vorstellen können. Darunter macht der «Spiegel» es einfach nicht. Nachhaltig geändert hat diese «Aufarbeitung» freilich nichts: Nach wie vor werden kritische Leserbriefschreiber von den Autoren abgewatscht, noch immer gibt es allzu gefühlige Reportagen und viel Besserwisserei.

Was also ist zu tun gegen Konzentrationsstörungen, Verflachung und Zerstreuung auf der einen und Polarisierung, Radikalisierung und Vertrauensverlust auf der anderen Seite? Wie verhindern wir die Selbstabschaffung der Demokratie? Ich mache kein Hehl daraus, dass ich die Zukunft skeptisch sehe. Und ich weiss kein Allheilmittel.

Die Lektionen

Allerdings haben wir uns auch mit anderen Grosstechnologien, etwa der Atomkraft oder der Gentechnik, kritisch auseinandergesetzt – es gibt also keinen Zwang, jeden Aspekt der digitalen Entwicklung als gottgegeben hinzunehmen. Wir müssen nur endlich eine politische Diskussion darüber beginnen, in welche Richtung wir gehen wollen. Die Europäische Urheberrechtsrichtlinie scheint mir da ein sinnvoller erster Schritt.

Und dann müssen wir verschiedene Bereiche, die ich hier aufgerufen habe, einzeln in den Blick nehmen. Schulkinder brauchen guten Lese- und Schreibunterricht, der ihnen Souveränität im Umgang mit Texten, vor allem aber erst einmal Freude am Lesen bringt. Und sie brauchen dringend mehr Geschichts-, Politik-, Wirtschafts- und Philosophieunterricht, als sie gegenwärtig bekommen. Sie müssen lernen, auch am praktischen Beispiel, wie Partizipation und Demokratie funktionieren – und dass auch politisches Engagement ihnen zuerst einmal Spass machen darf.

Wir brauchen eine Reform der Journalistenausbildung – weniger auf Preise orientierte Schönschreiberei in den Journalistenschulen, mehr Praxis im Feld, mehr Reflexion des eigenen Wirkens, mehr Bescheidenheit, bessere Fehlerkultur. Eine ernst gemeinte Fehlerkultur brauchen auch die Medien selbst – und sie müssen einander gegenseitig stärker kritisieren, denn wer sollte es sonst tun? Nur dann werden sie ihrer Aufgabe in der Demokratie gerecht.

Wird all das geschehen? Einer der Väter der amerikanischen Verfassung, James Madison, hat gesagt: «Die Pathologien der Freiheit können so gefährlich sein wie die Pathologien der Tyrannei – nur viel schwerer zu erkennen und zu heilen.»

Also müssen wir heute versuchen zu erkennen. Und wir müssen versuchen zu heilen.


Beim vorliegenden Text handelt es sich um die redigierte und gekürzte Fassung eines Vortrags, den Susanne Gaschke an der 48. Economic Conference der Progress Foundation am 3. Mai in Zürich gehalten hat.

NZZ 18. Mai 2019, Seite 9

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