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Zu viel Personal, zu wenig Inhalt

(NZZ – Wirtschaft – Schwarz und Wirz – Dienstag, 21. September 2021, Seite 21)

Von Gerhard Schwarz

Wer den Wahlkampf in Deutschland verfolgt, hat Mühe, nicht schwermütig zu werden. Demnächst wählt das wirtschaftlich wichtigste Land Europas ein neues Parlament. Und im Zentrum der Medien und Debatten steht fast ausschliesslich das politische Personal. Um die weltanschauliche Ausrichtung, den ordnungspolitischen Kompass wird nicht oder nur vorsichtig gerungen. Das ist die Folge von 16 Jahren, in denen die führende Regierungspartei und ihre Bundeskanzlerin klare Positionsbezüge gescheut haben, um keine Wähler vor den Kopf zu stossen.

Es mag sein, dass man Wahlen in der Mitte gewinnt, aber man bezahlt dafür einen doppelten Preis: das Entstehen beziehungsweise Gedeihen radikaler Parteien wie der AfD oder der Linken an den Rändern und eine so starke inhaltliche Angleichung der Parteien, dass man sie kaum noch auseinanderhalten kann. Die Ausstrahlung der Spitzenkandidaten wird zum wichtigsten Entscheidungskriterium.

Was in Deutschland passiert, kann der Schweiz nicht egal sein. Sie ist Konjunkturnehmerin, also von der wirtschaftlichen Entwicklung im Nachbarland abhängig, aber in vielem auch Ideennehmerin. Der deutsche Zeitgeist schwappt, ob einem das gefällt oder nicht, auf die Schweiz über. Und er ist erschreckend staatsgläubig, missgünstig, paternalistisch und anmassend.

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Schweiz von Deutschland das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das mit dem Namen Ludwig Erhards, des langjährigen Wirtschaftsministers und Bundeskanzlers, verbunden ist. Er setzte sich mit Führungsund Überzeugungskraft gegen den Zeitgeist in Politik und Volk durch.

Dieser Zeitgeist war damals nicht marktwirtschaftsfreundlicher als heute. Aber wo hört man heute in der deutschen Politik eine mutige Stimme, die sich gegen den Zeitgeist stellt? Dazu würde gehören, sich nicht nur im Abstrakten zur Sozialen Marktwirtschaft zu bekennen, denn das tun praktisch alle Parteien.

Vielmehr gehörten dazu klare und unpopuläre Ansagen im Erhardschen Stil: dass der Unternehmer die wichtigste Figur des Wirtschaftsgeschehens ist, von der der Wohlstand aller abhängt; dass es in der Wirtschaft um die Schaffung von Wohlstand und nicht um dessen Verteilung zur Befriedigung von Gerechtigkeitsvorstellungen geht; dass in offenen Gesellschaften Besitzstandwahrung keinen Platz hat; dass in der sozialen Sicherung der Selbsthilfe und Eigenvorsorge weitestmöglich Vorrang eingeräumt werden sollte; dass das Soziale der Marktwirtschaft nicht in der Angleichung der Einkommen durch Umverteilung liegt, sondern im Zugang zur Bildung und in einer Mindestsicherung gegen Wechselfälle des Lebens; dass Immobilienbesitzer, die Wohnungen zu Marktpreisen vermieten, nicht der Gier bezichtigt, sondern von der Privateigentumsordnung geschützt werden sollten; dass schliesslich Umwelt- und Klimaschutz nur in einer nicht durch ein Regulierungsdickicht und konfiskatorische Steuern erstickten Wirtschaft möglich sein werden. Wahrscheinlich geht es Deutschland wie der Schweiz zu gut, als dass die Notwendigkeit einer solchen ordnungspolitischen Renaissance erkannt würde.


Gerhard Schwarz ist Präsident der Progress Foundation.

NZZ 21. September 2021, Seite 21

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