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«Eben, Sie wollen den Beitritt» – «Halt, das habe ich nie gesagt!»

(Tages Anzeiger – Und jetzt? – Freitag, 31.12.2021, Seite 2-3)

Gespräche zum Jahreswechsel

Privatbankier Konrad Hummler glaubt daran, dass es die Schweiz ohne Europäische Union besser kann. Sanija Ameti, Chefin der Operation Libero, möchte hingegen ein möglichst enges Verhältnis.

Von Alan Cassidy & Philipp Loser

Wie weiter mit der Schweiz in Europa? Die beiden Liberalen Konrad Hummler und Sanija Ameti haben ziemlich unterschiedliche Ideen. Foto: Urs Jaudas.

Frau Ameti, was bedeutet Ihnen Europa ganz persönlich?

Sanija Ameti: Europa ist für mich die wahrgewordene Sehnsucht nach Freiheit in einer globalisierten Welt. Ich stamme aus dem ehemaligen Ostblock. Die Menschen dort tranken heimlich Coca-Cola. Nicht weil es besonders gut schmeckte. Aber weil die Sehnsucht nach der Freiheit so gross war, die Coca-Cola für sie verkörperte: Sie wollten wie die Amerikaner, freie Europäer sein.

Europa ist wie Coca-Cola?

Ameti: Es geht um ein Gefühl. Um die Sehnsucht nach freiem Personenverkehr, nach Innovation, nach Freiheit. Ein Gefühl, das auch viele Schweizerinnen und Schweizer gut kennen, gerade die jüngeren. Und ich bin überzeugt, dass die Sehnsucht dieses Landes stärker sein wird als die nationalkonservativen Ideologien über Europa.

Spüren Sie diese Sehnsucht auch, Herr Hummler?

Konrad Hummler: Durchaus. Auch ich habe Migrationshintergrund. Mein Urgrossvater kam 1848 als liberaler Flüchtling aus Deutschland in die Schweiz. Und Freiheit ist für mich mindestens so wichtig. Aber Europa ist für mich nicht die EU, es ist ein Kontinent mit unglaublicher Vielfalt und Kreativität, ob bei der Kunst, der Musik oder der Mode. Diese Vielfalt und Kreativität sehe ich durch die EU zunehmend gefährdet. Ich verstehe Freiheit deshalb möglichst global.

Ameti: Aber was ist denn der Rahmen, der Vielfalt und Kreativität überhaupt erst ermöglicht? Bis es die EU gab, herrschte in Europa vor allem Krieg. Wenn es die EU nicht gäbe, hätten wir ihn auch heute wieder, gerade im Osten, wo Russland sich breitmacht.

Hummler: Sie glauben, Russland fühle sich von der EU abgeschreckt?

Ameti: Worauf ich hinaus will: Die Vorläuferorganisation der EU wurde gegründet, um ein Europa in Sicherheit und Freiheit zu ermöglichen. Es ging stets mehr als nur um wirtschaftliche Zusammenarbeit. Und das ist auch heute noch so angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen, von der übergrossen Macht der digitalen Konzerne bis hin zu China.

Herr Hummler, wünschen Sie sich ein Europa ohne die EU?

Hummler: Nein, darum geht es nicht. Die EU ist ein real existierendes Konstrukt, das seine Vorteile hat und die ich auch nicht bestreite. Es ist auch eine Tatsache, dass die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zu vielen Kriegen führte, die es zu Zeiten der oft kritisierten Vielstaaterei nicht in diesem Ausmass gab. Die EU hat da als Friedensprojekt durchaus eine historische Leistung vollbracht, und man muss ihr viel Glück wünschen.

Aber?

Hummler: Unser Bild von der EU stammt aus den 1990er-Jahren, aus der Zeit, als wir uns im Hinblick auf die EWR-Abstimmung das letzte Mal ernsthaft damit befasst haben. Das war die EU des Aufbruchs nach dem Kalten Krieg, die EU der Verträge von Maastricht – schlank und überschaubar. Doch seither hat sich die Union verändert. Die grossen Krisen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben daraus einen Flächenstaat mit zentralistischen Tendenzen gemacht.

Frau Ameti, ist das Schweizer Bild der EU ein falsches?

Ameti: In der Schweiz ist uns nicht bewusst, dass die EU inzwischen, im Gegensatz zu den USA oder China, sogar eine regulatorische Weltmacht ist. Ihre Standards werden oft, einfach aus ökonomischen Gründen, weltweit übernommen. Im Umgang mit digitalen Multis, mit dem Klimawandel oder mit China ist sie der plausibelste Kandidat, die europäischen, unsere Werte durchzusetzen. Darauf sollten wir so viel Einfluss nehmen wie nur möglich, damit wir unsere Interessen sichern können. Das bedeutet Souveränität im globalisierten 21. Jahrhundert. Heute leben wir in einem Disneyland der Selbstlüge. Wir tun so, als wären wir souverän, dabei verlieren wir überall an Handlungsspielraum, siehe Stromabkommen. Und ohne Handlungsspielraum verkommt auch unsere Freiheit zu einem theoretischen Konstrukt.

Hummler: Sie sprechen die Werte an. Aber wenn man sieht, wie sich die EU von ihren eigenen Regeln über die Begrenzung der Staatsschulden entfernt hat, stelle ich fest: Wir haben in der Schweiz offenbar ein anderes Verständnis von Verschuldung. Die EU entwickelt sich da in eine unheimliche Richtung. Die schwächeren Mitgliedsstaaten könnten sich ja heute ohne die Europäische Zentralbank nicht einmal mehr bewegen an den Finanzmärkten. Ich befürchte, da kommen noch gröbere Verwerfungen auf uns zu.

Frau Ameti, als Sie zur Welt kamen, stimmte die Schweiz über den EWR-Beitritt ab. Sie, Herr Hummler, kämpften dafür. Bereuen Sie das eigentlich?

Hummler: Ich engagierte mich für den EWR, weil er uns lange Zeit verkauft wurde als massgeschneiderte Lösung für die Schweiz. Doch plötzlich erklärte der Bundesrat den EWR in den Worten von Adolf Ogi zum «Trainingslager» für die EU. Damit war mir klar, dass die Abstimmung verloren gehen würde. Das war für mich ein Dolchstoss, und mit der Politik wollte ich danach nichts mehr zu tun haben. Aber in der Sache bedauere ich das EWR-Nein immer noch.

Warum?

Hummler: Weil der EWR zu einem Gegenpol zur EU im europäischen Gefüge hätte werden können. Mit Ländern, die dort miteinander der EU auf Augenhöhe hätten begegnen können. Diese historische Chance wurde vertan, und mit den Folgen leben wir bis heute.

«Sie wollen mehr Integration, aber keinen Beitritt. Wie soll denn das gehen, Frau Ameti?»
Konrad Hummler

Frau Ameti, war das EWR-Nein eine verpasste Chance?

Ameti: Ich teile Herrn Hummlers Einschätzung. Das Nein zum EWR war der Grund, warum wir nach einer zehn Jahre langen Phase der Orientierungslosigkeit und wirtschaftlichen Stagnation die bilateralen Verträge aushandeln mussten, um doch noch am EU-Binnenmarkt teilnehmen zu können. Diese Bilateralen erodieren nun. Wir sind auf Stromimporte aus der EU angewiesen und sind jetzt von der Mitbestimmung der Strommarktregeln ausgeschlossen. Unsere Versorgungssicherheit ist ab 2025 nicht mehr gewährleistet. Unsere Medizinaltechnik-Unternehmen können die Patientenversorgung nicht mehr sicherstellen, und der Ausschluss der Schweizer Universitäten aus dem Horizon-Programm ist ein schwerer Schlag.

Hummler: Jetzt malen Sie aber sehr schwarz.

Ameti: Nein! Das sind die betroffenen Branchen und Experten, die das sagen. Und spätestens seit der Pandemie wissen wir ja, wie es herauskommt, wenn wir die Analysen von Expertinnen und Experten einfach ignorieren. Der Punkt ist doch: In der Schweiz ist vielen nicht bewusst, dass unser Wohlstand so extrem eng mit den Liefer- und Wertschöpfungsketten der EU verknüpft ist. Das geht bis zur EU-Infrastruktur, die wir für unsere Exporte nutzen. Das ist eine Verflechtung, die sich nicht einfach mit einem Freihandelsabkommen aufrechterhalten lässt, so, wie das vielleicht Herrn Hummler vorschwebt. Es geht nur mit Binnenmarktzugang.

Hummler: Ich sehe es nicht so düster, auch die Situation mit dem Strommarkt nicht. Die Dunkelflaute wird da jetzt arg dramatisch beschworen. Aber die EU ist immer noch darauf angewiesen, dass der Strom durch die Schweiz fliesst, es gibt da überlappende Interessen. Aber ich gebe Ihnen recht: Wir brauchen ein vernünftiges Verhältnis zur EU. Ob das jetzt gleich der Beitritt sein muss, wie er Ihnen vorzuschweben scheint …

Ameti: … halt, das habe ich nie gesagt.

Hummler: Ich dachte, Sie sammelten für eine Volksinitiative in diese Richtung?

Ameti: Nein, es geht um eine institutionelle Lösung, damit die Schweiz ihre Handlungsfähigkeit zurückerlangt.

«Herr Hummler, Sie können sich den Rest Ihres Lebens von Bach-Sonaten berieseln lassen, wir können das nicht.»
Sanija Ameti

Dass wir jetzt überhaupt wieder über diese Dinge diskutieren, hat auch damit zu tun, dass der Bundesrat in diesem Jahr die Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen abgebrochen hat. Wie beurteilen Sie die Leistung des Bundesrats beim Rahmenabkommen?

Hummler: Das Rahmenabkommen war eine Mogelpackung. Ein weiteres Integrationspaket, das als etwas anderes verkauft wurde. Ich rechne es dem Bundesrat hoch an, dass er es beerdigt hat.

Ameti: Für das Scheitern des Rahmenabkommens ist nicht allein der Bundesrat verantwortlich. Aber er war es letztlich, der nach jahrelangen Verhandlungen einfach den Stecker zog. Herr Hummler hat die Initiative angesprochen. Damit wollen wir korrigieren, was der Bundesrat angerichtet hat. Wir holen die Legislaturplanung des Bundesrats aus dem Papierkorb, streichen sie auf seinem Pult glatt und sagen: Das war «imfall» verbindlich. Am Schluss ist es ganz einfach: Kontinentale Probleme brauchen kontinentale Regelungen. Wir wollen auf diese Regelungen so viel Einfluss nehmen, wie es geht. Dabei geht es um unsere Zukunft, Herr Hummler. Sie können sich den Rest Ihres Lebens von Bach-Sonaten berieseln lassen, wir können das nicht. Wir müssen uns über den Klimawandel kümmern, um die Macht der digitalen Konzerne, um die Blockbildung zwischen den USA und China. Es geht um unsere Sicherheit und unsere Handlungsfreiheit, die wir nur mit der EU gewährleisten können.

Hummler: Auch wenn ich eine kürzere Restlaufzeit im Leben habe, lasse ich mich nicht diskriminieren und lasse es mir nicht nehmen, Dinge zu kommentieren und zu kritisieren. Es sind übrigens Kantaten, nicht Sonaten, das ist ein Unterschied. Bei den einen wird gesungen, bei den anderen nicht. Abgesehen davon: Ich habe Enkel und ich möchte, dass auch sie einmal ein gutes Leben haben.

Ameti: Umso mehr müsste Ihnen doch am Herzen liegen, dass die Schweiz einen möglichst grossen Handlungsspielraum besitzt. Dass sich die Schweiz nicht an Regeln halten muss, die sie nicht mal selber mitbestimmt hat – so wie die Briten heute. Souveränität heisst Mitbestimmung – und die bekommt man nicht, wenn man nur ein Freihandelsabkommen abschliesst.

Hummler: Sie möchten also lieber der EU beitreten?

Ameti: Was wir wollen, ist eine Situation, in der die Schweiz wieder Abkommen mit ihrem wichtigsten Partner schliessen kann. Inzwischen werden aber auch die Bilateralen ganz offen infrage gestellt, unter anderen von Ihnen. Mindestens die müssen erhalten bleiben.

Hummler: Wenn wir bei den Bilateralen bleiben, steht immer noch der gleiche Elefant im Raum. Wir haben bei der Zuwanderung ein quantitatives Problem. Wer sagt denn, dass die Zuwanderung aus Portugal, Rumänien oder Deutschland so viel besser ist als aus der restlichen Welt? Die Briten haben jetzt ein neues System, eines nach Punkten, das scheint mir gut zu funktionieren. Vielleicht müsste man darüber nachdenken, ein Freihandelsabkommen anzustreben, wie es die EU mit Kanada hat. Das könnte mehr wert sein als die Bilateralen.

«Seit dreissig Jahren wird die EU von Ihren Kreisen als Zentralstaatsungeheuer dargestellt, Herr Hummler. Das verhindert eine echte Diskussion.»
Sanija Ameti

Sie sehen das grösste Problem im Verhältnis zur EU nicht in der Souveränitätsfrage, sondern bei der Zuwanderung?

Hummler: Wenn wir ein ehrliches Verhältnis zu Europa haben möchten, dann muss man auch über die wahren Probleme reden. Und dazu gehört die Zuwanderung respektive die immer grösser werdenden Kosten, die damit verbunden sind. Wenn wir über unseren Lohnschutz reden, geht es am Schluss um das Gleiche – nur sprechen das die Gewerkschaften natürlich nicht aus. Dabei ist die Frage am Schluss einfach: Wie viele Menschen mag es in der Schweiz vertragen? Ich bin ehrlich und sage, Leute, wir bekommen ein Problem. Es wird eng.

Ameti: Das ist der Grund, warum die FDP nur einzelne Abkommen mit der EU dynamisieren möchte – dann könnte die Personenfreizügigkeit ausgeklammert werden. Dabei ignorieren die FDP und Herr Hummler, dass unsere Alterspyramide über die erwerbstätigen EU-Zuwanderer korrigiert wird. Ohne diese Zuwanderer könnten wir unsere Sozialleistungen gar nicht mehr tragen.

Herr Hummler, Sie haben die Briten erwähnt. Dort lief es nach dem Brexit ja gar nicht rund – der Insel fehlten die Zuwanderer. Tankstellen wurden nicht mehr bedient, Lastwagen blieben stehen.

Hummler: Das sind Anpassungsschwierigkeiten, die sich geben werden. Mich dünkt, und ich will Ihnen da nicht zu nahe treten, dass die Berichterstattung über Grossbritannien etwas einseitig und etwas gar brexitfeindlich ist. Ich war selber in England und habe keine Mangellage feststellen können.

Kommen wir zurück zur Schweiz. Es gibt verschiedene Ideen, wie die Beziehungen zur EU in der Zukunft geregelt werden könnten. Eine davon sind höhere Kohäsionsbeiträge, mit denen man sich ein Ticket für den Binnenmarkt löst. Was halten Sie davon?

Hummler: Wenig. Die EU verfügt im Moment über Tonnen von Gratisgeld, alles garantiert von der Europäischen Zentralbank. Da hat man keine guten Karten als Schweiz, wenn man meint, man müsse jetzt etwas grosszügig sein. Es scheint mir auch keine nachhaltige Lösung zu sein.

Ameti: Das sehe ich ähnlich. Wie ich bereits gesagt habe: Unsere Souveränität wird von unserem Handlungsspielraum definiert. Davon, wie stark wir mitbestimmen können, und am Schluss halt auch davon, wie stark wir integriert sind.

Hummler: Eben – Sie möchten den Beitritt!

Ameti: Nein.

Hummler: Sie wollen mehr Integration, aber keinen Beitritt. Wie soll denn das gehen? Das ist genau dieses «Halbwulige», das ich nicht verstehen kann.

Ameti: Seit dreissig Jahren wird die EU von Ihnen und Ihren Kreisen als Zentralstaatsungeheuer dargestellt. Das verhindert eine echte Diskussion über Europa. Die Diskussion um einen EU- oder EWR-Beitritt wird sich mit der zunehmenden Globalisierung aber immer mehr aufdrängen.

Ein Problem der Schweizer Europapolitik sind die grossen Parteien, die in der Europafrage allesamt gespalten sind. Was heisst das für zivilgesellschaftliche Organisationen wie Operation Libero oder Kompass Europa?

Ameti: Parteien folgen ihrer eigenen Logik: Alle haben Angst, mit dem EU-Thema Wähler zu vergraulen. Am meisten die FDP, die in zwei Jahren auf die Stimmen der SVP angewiesen ist, um ihre Bundesratssitze zu sichern. Darum braucht es Organisationen wie die unsere, die den Diskurs über Europa erzwingen. Die Initiative musste jetzt kommen, damit die Politikerinnen und Politiker sich bei den kommenden Wahlen in der Europafrage bekennen müssen.

Hummler: Ich begrüsse es, wenn die zivilgesellschaftlichen Organisationen das Europa-Thema bewirtschaften. Am Schluss sind es aber trotzdem die Parteien, die sich darum kümmern müssen. Die haben sich lange davor gedrückt und sich hinter den Bilateralen versteckt. Dieses Debattenvakuum stelle ich bei allen Parteien fest, selbst bei der SVP. Die sagt zwar deutlich, was sie nicht will – aber einen konstruktiven Vorschlag für das künftige Verhältnis mit Europa hab ich von dort noch nie gehört. Dabei wäre es doch die SVP, die für ein neues Freihandelsabkommen all die störrischen Bauern unter Kontrolle bringen müsste! Ich wünsche mir diese Auseinandersetzung, ich wünsche mir auch, dass der neue FDP-Präsident Thierry Burkart diesen Faden aufnimmt.

Sie leiden beide etwas an der FDP, oder?

Ameti: Die Operation Libero bräuchte es nicht, wenn die FDP ihre Arbeit machen würde.

Hummler: Ich leide am Freisinn, seit ich denken kann. Mein Vater war FDP-Nationalrat und Stadtpräsident, ich bin der Partei nie enteilt, war immer unter Leidensgenossen. Man hat zu wenig auf uns gehört. Es ist hart, geht es der Partei im Moment so schlecht. Aber vielleicht ist das auch eine Chance auf ein Comeback – wenn sich die FDP getraut, die wesentlichen Fragen zu thematisieren.

Tages Anzeiger 31.12.2021, Seite 2-3

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