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Der Drang zur Mitte

(NZZ – Wirtschaft – Schwarz und Wirz – Dienstag, 11. Januar 2022, Seite 23)

GERHARD SCHWARZ

In Kirchen und Hörsälen kann man beobachten, dass die Besucher sich an die Ränder setzen. So sind sie nicht permanent im Blickfeld des Pfarrers oder Dozenten und gelangen am Ende der Veranstaltung schneller wieder ins Freie. In der europäischen Politik beobachtet man dagegen seit langem das Gegenteil, nämlich einen fatalen Drang zur Mitte.

Zumal in Deutschland sind die grossen Parteien in der Mitte des politischen Spektrums zusammengerückt, rennen dem Mainstream nach, wollen niemanden verärgern und es allen recht machen. Ihre Programme lassen sich kaum voneinander unterscheiden; in der praktischen Umsetzung wird der Unterschied sogar noch kleiner.

Dahinter steckt ein strukturelles Problem der parlamentarischen Demokratie. Sie ist auf Mehrheiten angelegt. Wer die absolute Mehrheit im Parlament gewinnt, kann allein regieren, wer eine relative Mehrheit erhält, kann zumindest federführend zusammen mit Partnern eine Regierung bilden. Mehrheiten gewinnt man aber nicht an den Rändern, sondern in der Mitte. Als Folge davon spielt für den Wahlerfolg die inhaltliche Differenzierung kaum eine Rolle, sondern nur das Personal, das allerdings in Deutschland auf beiden Seiten ähnlich blass ist.

Das ist der Nachteil der parlamentarischen Demokratie gegenüber dem Markt. In der Demokratie gilt, was die Mehrheit entscheidet, für alle. Auf dem Markt lassen sich hingegen höchst unterschiedliche Vorstellungen und Wünsche nebeneinander bedienen. Um sich zu behaupten, muss man nicht einen Marktanteil von 51 Prozent oder mehr erreichen. Unternehmen, die Nischen bedienen und nur bei 5 Prozent der Menschen auf Interesse stossen, können sehr erfolgreich sein. Das lädt zur Profilierung und Differenzierung ein. Natürlich gibt es Massenprodukte, bei denen der Wettbewerb fast nur über den Preis läuft, aber im Normalfall versuchen Firmen Kunden mit einem anderen und besseren Angebot als die Konkurrenz zu gewinnen.

In der Schweiz spielen die Wahlergebnisse wegen der vielen Parteien und dank der «Zauberformel» bei der Zusammensetzung der Regierung nur eine Rolle, wenn es zu starken Ausschlägen kommt, die sich über mehrere Wahlperioden und auch auf Kantonsebene bestätigen. Da es zudem bei 30 Prozent Wählerstimmen eine Schallmauer zu geben scheint, muss eine Partei gar nicht versuchen wollen, praktisch die Hälfte des politischen Spektrums abzubilden.

Erstaunlicherweise tun das die zwei einst grossen Volksparteien, die FDP und die sich neu sogar als «Die Mitte» bezeichnende ehemalige CVP, trotzdem. Sie hecheln in Teilen bei Klima, Energie, Gender, Identität, Wokeness oder der EU-Frage dem illiberalen Zeitgeist nach, sie wollen nicht in erster Linie marktwirtschaftlich, liberal, konservativ und rechts sein, sondern vor allem modern und fortschrittlich.

Dabei müssten sich in der Schweiz die Parteien weniger als anderswo bis zur Unkenntlichkeit in alle Richtungen verbiegen. In der Kollegialbehörde des Bundesrates und in den Räten braucht es zwar Kompromisse. Aber in der Programmatik wären klare Konturen möglich. Wo sind sie geblieben?


Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

NZZ 11. Januar 2022, Seite 23

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