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Abschied vom Paternalismus in der zweiten Säule


(Schweizer Monat – Sonderpublikation – Februar 2022)

Wettbewerb sorgt für Innovation und Ausrichtung an den individuellen Präferenzen – doch ausgerechnet im finanziell gewichtigen Bereich der beruflichen Vorsorge wird er verboten. Die freie Wahl der Pensionskasse ist überfällig.

von Gerhard Schwarz

Freiheitliche Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen möglichst grosse Wahlfreiheit herrscht. Diese Wahlfreiheit ist einerseits begrenzt durch natürliche Einschränkungen. Nicht jede und jeder erhält eine Universitätsprofessur oder eine Leitungsstelle an einem Opernhaus, nur weil er oder sie das gerne möchte. Die Person muss sich im Wettbewerb mit ähnlich geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten durchsetzen. Anderseits bilden die Einkommens- und Vermögensverhältnisse eine Schranke. Wahlfreiheit kann und soll in einer knappen Welt nicht heissen, dass wer immer etwas erwerben oder konsumieren möchte, dazu auch in der Lage sein sollte, unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage. Eine fast totale Wahlfreiheit kann es höchstens im Schlaraffenland geben.

Abgesehen von diesen natürlichen und nicht überwindbaren Einschränkungen zeichnen sich liberale Gesellschaften aber dadurch aus, dass ihre Mitglieder in ganz vielen relativ unwichtigen Belangen und erst recht in den meisten fundamentalen Entscheiden völlig frei sind. Sie sind frei in der Wahl des Lebenspartners beziehungsweise der -partnerin, sie sind frei in der Wahl der weiterführenden Schulen und später des Berufs, sie sind frei in der Wahl des Arbeitsplatzes und des Wohnortes, zumindest innerhalb des eigenen Landes, sie können oft zwischen unzähligen Produkten der gleichen Kategorie auswählen, ebenso zwischen den verschiedensten Erbringern von Dienstleistungen, etwa zwischen Versicherungen und Krankenkassen oder zwischen Ärzten und Anwälten. Das politische Pendant dazu ist die Möglichkeit der freien Wahl verschiedener Parteien bei Wahlen und, in einer direkten Demokratie wie der Schweiz, die freie Stimmabgabe bei Abstimmungen.

Der Grund für die Ermöglichung von Wettbewerb und die sich daraus ableitende Wahlfreiheit ist ein doppelter. Zum einen sind Wettbewerb und Wahlfreiheit Ausdruck der Entscheidungsfreiheit jedes einzelnen. Zum anderen sind sie Grundlage der Bedürfnisgerechtigkeit. Der Wettbewerb sorgt für Innovation, für die Ausrichtung des Angebots auf die Bedürfnisse der Kundschaft, für eine Vielfalt, die den unterschiedlichen individuellen Präferenzen besser gerecht wird als monopolistische Einheitslösungen. Auf diese Vorteile des Wettbewerbs und der Wahlfreiheit verzichtet die Schweiz, die sonst gemäss allen möglichen Untersuchungen zu den fünf freiheitlichsten Ländern der Erde zählt, in einer ziemlich zentralen Frage, nämlich im Bereich der Pensionskassen. Hier verhindert das Gesetz recht eigentlich den Wettbewerb und die freie Wahl der Pensionskasse durch den Arbeitnehmer. Dabei geht es immerhin um die finanzielle Sicherung des Lebensunterhalts für fast einen Viertel des Lebens und um die Leistung finanzieller Beiträge während etwa der Hälfte des Lebens. Je wichtiger etwas ist, umso mehr sollte man die Vorteile des Wettbewerbs und der Wahlfreiheit nutzen. Dass die Menschen nicht zwischen verschiedenen Pensionskassen und Vorsorgelösungen wählen können, ist für sie nachteiliger, als wenn sie beispielsweise nicht mehr zwischen verschiedenen Benzinmarken wählen könnten.

Es wäre daher längstens an der Zeit, die Wahl der Pensionskasse freizugeben, also die Pensionskasse vom Arbeitsplatz zu entkoppeln. Lange waren die Pensionskassen goldene Käfige, weil man bei einem Wechsel des Arbeitgebers einen Teil seiner Rentenansprüche verlor. Das war der Dynamik und Flexibilität des Arbeitsmarktes nicht eben dienlich. Inzwischen herrscht zwar Freizügigkeit, man verliert somit bei einem Arbeitsplatzwechsel höchstens noch Wertschwankungsreserven und technische Rückstellungen, aber noch immer wird die Pensionskassenlösung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Arbeitgeber festgelegt. Ein und dieselbe Vorsorgelösung für alle Beschäftigten eines Betriebs wird den vielen unterschiedlichen Präferenzen und Lebensentwürfen nicht gerecht. Von diesem geradezu entmündigenden Modell sollte man sich möglichst rasch befreien. Natürlich kann man schon heute innerhalb der gleichen Pensionskasse verschiedene Risikoprofile und Anlagewünsche berücksichtigen, was auch oft geschieht, aber die Grösse der Kassen setzt diesem Vorgehen Grenzen. Es ist eine halbbatzige Lösung gegenüber der konsequenten Überwindung des herrschenden Paternalismus durch die Ermöglichung einer freien Wahl der Pensionskasse.

Was wären die Vorteile einer solch freien Pensionskassenwahl für alle Beschäftigten? Erstens liessen sich so die stark unterschiedlichen individuellen Vorstellungen und Bedürfnisse viel besser abbilden. Wer etwa sehr vermögend ist, muss nicht unbedingt noch ein grosses zusätzliches Vorsorgekapital aufbauen. Zweitens könnten dadurch die Versicherten ihre Anlagevorstellungen bei einer ihrer grössten Investitionen, oft sogar der grössten Investition überhaupt, zum Ausdruck bringen. Jene, denen Ökologie und Entwicklungspolitik wichtig sind, könnten Kassen mit entsprechenden Strategien wählen, ohne dass ihre Kolleginnen und Kollegen im Betrieb sich dem gleichen Regime unterwerfen müssten. Drittens würde der Wettbewerb die Kundenorientierung befördern und die Suche nach neuen Produktformen beschleunigen. Viertens müssten sich die Anbieter um grosse Transparenz und um eine gewisse Einfachheit der angebotenen Produkte bemühen, denn bei zu komplizierten Lösungen würde ihnen die Kundschaft nicht mehr folgen.

Fünftens käme es wohl zu einer schnelleren Konsolidierung der zurzeit viel zu zersplitterten Branche, mit entsprechenden Synergiegewinnen. Sechstens wäre ein Vorteil der freien Wahl, dass man so die zunehmenden Stellenwechsel viel besser bewältigen könnte; der Arbeitgeber mag wechseln, die Pensionskasse aber bleibt die gleiche. Das gilt, siebtens, erst recht für den aktuellen Trend zur Teilzeit- und zur Mehrfachbeschäftigung: Wer seine Pensionskasse selbst wählt, kann, wenn er 20 Prozent einer Arbeit bei einem Arbeitgeber nachgeht, 40 Prozent bei einem anderen Arbeitgeber angestellt ist und 40 Prozent selbständig tätig ist, bei seiner Pensionskasse alle Daten und Geldflüsse zusammenführen; zudem ist er nicht der Gefahr eines zu hohen oder eines mehrfachen Koordinationsabzugs ausgesetzt. Achtens schliesslich bedeutete die freie Wahl der Pensionskasse auch eine Entkoppelung des Arbeitsplatz- und des Vorsorgerisikos.

Natürlich ist die Lösung, wie jede Lösung, nicht ohne Tücken, so viele Vorteile sie auch bietet. Ein Haupteinwand, der gegenüber jeglichem Wettbewerb in fast allen Bereichen immer wieder vorgebracht wird, ist die Tatsache, dass der Wettbewerb einen hohen Werbeaufwand verlangt. Das ist tatsächlich ein Preis, den man zahlen muss, aber ein Preis, der sich mehr als lohnt. Gewichtigerist die Überlegung, dass sich die Arbeitgeber bisher jeweils stark überproportional an der Sanierung von Pensionskassen beteiligt haben, wo das nötig war. Sie verstanden dies als eine geradezu klassische patronale Pflicht. Wenn ihre Belegschaft aber plötzlich bei ganz vielen unterschiedlichen Kassen versichert ist, fällt diese patronale Verantwortung weg. Das Risiko bei überraschenden Entwicklungen liegt damit praktisch allein beim Versicherten. Dort gehört es auch hin. Zugleich zeigt der Hinweis allerdings auch, dass die über die regulären Beiträge hinausgehenden Leistungen der Arbeitgeber den Versicherten wohl gar nicht immer sehr bewusst sind. Bei freier Wahl der Pensionskasse müsste der Arbeitgeber einen vorgegebenen Prozentsatz des Lohnes an die vom Arbeitnehmer gewählte Kasse zahlen. Falls der Arbeitnehmer eine teurere Lösung wählt, müsste er diese Mehrkosten alleine tragen. Noch besser wäre aus liberaler Sicht, den Arbeitgeberbeitrag ganz abzuschaffen und stattdessen einfach einen entsprechend höheren Lohn auszuzahlen. Der Begriff «Arbeitgeberbeitrag» ist ja seit je eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. In Wirklichkeit zahlt auch diesen Beitrag der Arbeitnehmer. Dieser ist dem Arbeitgeber nämlich viel mehr wert als nur der Bruttolohn, den der Beschäftigte erhält. Müsste er nicht viele Nebenkosten tragen, könnte er seinen Angestellten entsprechend höhere Löhne zahlen, und diese müssten sich dann um ihre soziale Sicherung kümmern. Freie Pensionskassenwahl bedeutete also nicht etwa einen Sozialabbau, sondern einen veritablen Fortschritt weg vom Paternalismus in Richtung Mündigkeit. Es ist ein längst fälliger Schritt.


Gerhard Schwarz ist promovierter Ökonom. Er war langjähriger Leiter der Wirtschaftsredaktion der NZZ und von 2010 bis 2016 Direktor der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse.

Schweizer Monat – Sonderpublikation – Februar 2022, Seite 19-20

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