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«Weniger haben als andere ist nicht Armut»

(NZZ am Sonntag – Freiheit – 27. Februar 2022, Seite 30-31)

Gerhard Schwarz und René Scheu fragen sich in ihrem Chat, wieso Neoliberale im Ruf stehen, kaltherzige Kapitalisten zu sein. Das hat aus ihrer Sicht damit zu tun, dass Neidpolitik um sich greift – und Armut immer breiter definiert wird

Neue Rubrik

Liberalismus, was heisst das heute?
Rechtsliberal, linksliberal, gesellschaftsliberal, grünliberal: Wenn ein Attribut so inflationär verwendet wird, führt das zur Begriffsverwirrung. Deshalb führen wir die neue Rubrik «Freiheit» ein. Gerhard Schwarz und René Scheu, der eine Ökonom, der andere Philosoph, wagen ein Experiment: Sie chatten (in der Online-Version inklusive Emojis). Einmal im Monat erörtern die beiden Publizisten und Freunde gemeinsam einen Aspekt des freien Lebens heute. Sie nutzen dafür den Messenger-Dienst Signal, bei dem dank Endezu- Ende-Verschlüsselung die Privatsphäre garantiert ist.

Gerhard Schwarz

Der Ökonom ist Präsident der Progress Foundation und Mitglied des Publizistischen Beirats der NZZ. Er leitete von 2010 bis 2016 die liberale Denkfabrik Avenir Suisse. Zuvor war er während vieler Jahre Chef des Wirtschaftsressorts der NZZ.

René Scheu

Der Philosoph ist Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Von 2016 bis Juni 2021 leitete er das Feuilleton der NZZ. Zuvor war er Chefredaktor und Herausgeber des Magazins «Schweizer Monat».

René Scheu: Geri, parat?

Gerhard Schwarz: Der Abend ist noch jung. Legen wir los.

RS: Wir wagen ein Chat-Experiment. Meine Prognose: Wir schreiben zu viel.

GS: Mal sehen. Wir sind lernfähig.

RS: Dein Wort in Gottes Ohr. Wenn du dir ein erstes Bild über jemanden machen willst, konsultierst du dann Wikipedia?

GS: Je weiter weg die Leute von mir sind, desto eher verwende ich Wikipedia. Wenn aber jemand in meinem Umfeld mir etwas über eine Person erzählen kann, dann ist mir diese zwar subjektive, aber persönliche Information lieber und wichtiger.

RS: Wikipedia ist auch für mich ein Notbehelf. In deinem Wikipedia- Eintrag heisst es, du geltest als «herausragender neoliberaler Journalist». Treffend – oder ein grosses Missverständnis?

GS: Das kommt darauf an. Heute wird unter Neoliberalismus in den Medien und der Öffentlichkeit ja meist eine Art wild gewordener und fundamentalistischer Liberalismus verstanden.

RS: Aha. Bist du immerhin ein freundlicher «Fundi»?

GS: Ob freundlich oder nicht – jedenfalls kein «Fundi». Und das waren auch jene nicht, die den Begriff «Neoliberalismus» einst geprägt haben. Das waren Wissenschafter und Publizisten, die sich 1938 zu einem Symposium in Paris trafen. Sie dachten über einen für die Zukunft tauglichen Liberalismus nach. Dabei kritisierten sie den sogenannten Laissez-faire-Liberalismus, eine sich selbst überlassene Wirtschaft ganz ohne staatliche Regeln. Genau deswegen nannten sie sich Neoliberale.

RS: Westliche Nationen haben Staatsquoten von 40 bis 50 Prozent und mehr, sie haben für gewöhnlich einen intakten Sozialstaat mit Grundsicherung, sie haben ein für alle zugängliches Gesundheits- und Bildungssystem…

GS: …eben, von Wildwest-Kapitalismus keine Spur.

RS: Ergo?

GS: Die Charakterisierung unserer Gesellschaft und Wirtschaft als radikal marktwirtschaftlich und die Bezeichnung dieses Zustandes als neoliberal ist ziemlich geschichtsvergessen.

RS: Inwiefern genau?

GS: Zum einen waren die Neoliberalen alles andere als radikal. Zum anderen war vor allem in den deutschsprachigen Ländern die Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten 75 Jahre wesentlich vom neoliberalen Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft geprägt. Unter diesem Schlagwort hat Ludwig Erhard zuerst als Wirtschaftsminister und dann als Bundeskanzler das deutsche «Wirtschaftswunder» geprägt.

RS: Ein Wunder, echt jetzt?

GS: Du hast die Anführungszeichen überlesen.

RS: Ach so.

GS: Heute bekennen sich von links bis rechts praktisch alle zur Sozialen Marktwirtschaft. Der existierende Wohlfahrtsstaat geht jedoch weit über das hinaus, was die Väter der Sozialen Marktwirtschaft wollten. Sie waren überzeugt, dass es in der Marktwirtschaft zwar einen sozialen Reparaturbetrieb braucht, wenn das Schicksal besonders schlimm zuschlägt, aber nicht viel mehr. Diese schlanke und ranke Soziale Marktwirtschaft war im ursprünglichen Sinn ein neoliberales Projekt. Aber aus der Perspektive des heutigen Wohlfahrtsstaates will man das nicht mehr wahrhaben.

RS: Am Symposium in Paris hat auch der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke teilgenommen. In seinem Werk «Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart» wettert er gegen den Laissez-faire-Liberalismus, gegen das primitive Bild des Homo oeconomicus, gegen die Atomisierung der Menschen. Ist das nicht genau die Kritik, die heute von linker und konservativer Seite gegen den Kapitalismus formuliert wird?

GS: Absolut. Es gibt sicher eine gemeinsame Schnittmenge zwischen Röpkes Zivilisationskritik und dem Unbehagen, das heutige Wachstumskritiker gegenüber der modernen Industrieund Finanzgesellschaft empfinden. Röpke verstand seine Ideen als dritten Weg zwischen Sozialismus und hemmungslosem Liberalismus, ganz ähnlich wie die heutigen Kapitalismuskritiker.

RS: Ziemlich schräg, oder?

GS: Die Schubladisierung der liberalen Denker funktioniert eben – zum Glück – meist nicht so gut. Röpke musste übrigens aus Nazideutschland fliehen, weil er sich sehr kritisch über das Regime geäussert hatte. Er war in vielen wirtschaftlichen Fragen liberal. Er war aber auch wertkonservativ, aus heutiger Sicht wirkt einiges geradezu reaktionär.

RS: Röpke träumte von einer harmonischen dörflichen und mittelständischen Welt, die bereits Mitte des 20. Jahrhunderts passé war, und er fand die Apartheid in Südafrika okay.

GS: Stimmt. Sein Verdienst war jedoch, dass er mit seinen Büchern sowie über Leitartikel in der NZZ – während und nach dem Krieg – viel dazu beigetragen hat, dass in der Schweiz Liberalismus und Marktwirtschaft einen hohen Stellenwert genossen.

RS: Wie praktisch alle Neoliberalen war er überzeugt: Der Staat hat den Wettbewerb in der Marktwirtschaft zu gewährleisten.

GS: Die Wettbewerbspolitik lag allen Neoliberalen sehr am Herzen. Sie wollten dadurch die Ballung wirtschaftlicher Macht verhindern. Natürlich, der Einwand liegt auf der Hand: Wenn man dem Staat und seiner Weisheit und Unparteilichkeit in fast allen Belangen misstraut, warum vertraut man ihm dann in der Wettbewerbspolitik?

RS: Die Neoliberalen haben den Staat zuweilen idealisiert. Man könnte sagen: Sie waren Wettbewerbsfetischisten.

GS: Der Markt ist eine grossartige Institution, aber dem Staat kommt als Regelsetzer eine aktive Rolle zu. Wenn es eine einigende These unter den Neoliberalen gab, die Deutsche, Österreicher wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, Franzosen und die am Kolloquium spärlich vertretenen Angelsachsen verband, dann war es die Überzeugung: Der Markt braucht eine von einem schlanken, aber starken Staat gesetzte Ordnung, die von Partikularinteressen unabhängig ist.

RS: Für die Neoliberalen hat alles einen Preis, sie wollen den Menschen nicht mit Zwang, sondern über Anreize steuern. Doch der Mensch ist – wie Adolf Muschg einmal schön gesagt hat – kein Meerschweinchen.

GS: Ich kenne ehrlich gesagt niemanden, der die Menschen mit Meerschweinchen gleichsetzt. Menschen reagieren auf Anreize, daran rüttelt auch die moderne Verhaltensökonomie nicht. Nur ist das keine mechanistische Reaktion – etwa: doppeltes Gehalt, doppelte Anstrengung. Dabei dachten intelligente Ökonomen nie nur an monetäre Anreize. Status, Anerkennung, Freundschaft und viele andere Anreize beeinflussen unser Verhalten. In diesem Sinne hat eben doch alles seinen Preis, doch besteht der Preis nicht nur oder oft gar nicht in Geld, sondern zum Beispiel in Zeit oder Glück.

RS: Das Schöne an den Neoliberalen ist: Sie sind insgesamt ziemlich unangepasste Geister, ökonomische Nonkonformisten.

GS: Liberale sind insofern alles andere als strukturkonservativ, als sie sich nicht per se und generell am Status quo festklammern: Warum soll die heutige Regeldichte, die heutige Staatsquote sakrosankt sein und jede Reduktion des Teufels? Da fehlen mir auf der Seite der linken und rechten Etatisten klare Prinzipien. Einfach immer noch mehr kann es doch nicht sein.

RS: Auch «immer mehr» ist ein Prinzip – und mit der Zunahme des Wohlstands verändert sich die soziopolitische Befindlichkeit. Dann gilt: Je grösser der objektive Wohlstand, desto geringer das subjektive Wohlbefinden. Der Blick fokussiert nur noch auf die Unterschiede.

GS: Weniger zu haben als andere, ist nicht Armut. Da geht es um ein Unbehagen an der Ungleichheit, zum Teil auch um Neid, selbst wenn das viele weit von sich weisen. Man gewinnt natürlich im linken Lager politisch mehr Zuspruch, wenn man sich Armutsbekämpfung auf die Fahnen schreibt, als wenn man von Neidpolitik spricht.

RS: In der helvetischen Bundesverfassung steht, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst – der Satz stammt ebenfalls von Adolf Muschg.

GS: Ein wohlklingender Satz. Zugleich auch ein potenziell irreführender. Die Sozialpolitik sollte ursprünglich echtes Elend verhindern. Heute jedoch wird Armut nicht mehr absolut definiert, sondern relativ. Als arm gilt nicht mehr, wer im Elend lebt, sondern wer nur 40% oder 60% des mittleren Einkommens erzielt. Gemäss diesem Konzept der relativen Armut bleibt die Zahl der Armen immer gleich, selbst wenn eine Gesellschaft doppelt so reich wird.

Wieso sollen die heutige Regeldichte und die heutige Staatsquote sakrosankt sein?
Gerhard Schwarz

RS: Armut ist jenseits echten Elends genau wie Reichtum eine Definitionsfrage.

GS: Wohl wahr. Dazu kommt die heutige Fixierung auf materielle Gleichheit, der selbst angeblich liberale Parteien nicht wirklich zu widersprechen wagen. Ursprünglich ging es den Liberalen darum, die Startchancen für Benachteiligte zu verbessern. Da haben wir enorme Fortschritte erzielt. Aber wenn die Menschen aus ihren Chancen und Fähigkeiten nicht das Gleiche machen, sollte der Staat das nicht ausgleichen.

RS: Die EU war im Ursprung ein neoliberales Projekt – die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Wie würden sich Neoliberale der ersten Stunde zur EU stellen?

GS: Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes ist natürlich ein liberaler Fortschritt gegenüber den früher abgeschotteten, zum Teil relativ kleinen nationalen Märkten. Aber zugleich schottet sich die EU nach aussen ab, sie ist protektionistisch auf höherer Ebene. Und sie setzt aus meiner Sicht zu sehr auf Integration, also auf die Harmonisierung von Regeln. Insofern wären die Reak- tionen der Neoliberalen von damals wohl gespalten.

RS: Politische Zentralisierung ist der Preis für einen grossen gemeinsamen Markt.

GS: Nicht zwingend. Besser wäre aus neoliberaler Sicht Freihandel innerhalb der EU mit gegenseitiger Anerkennung der Normen und Regeln. Bier muss nicht überall nach den gleichen Vorgaben gebraut sein, und es spricht nichts dagegen, dass die Deutschen Bier aus Frankreich oder Tschechien ohne Behinderung auf ihrem Markt zulassen, auch wenn es nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde – und umgekehrt.

RS: Warum haben ausgerechnet Linke den Narren am EU-Projekt gefressen?

GS: In vielen EU-Mitgliedsländern sind auch die bürgerlichen Kräfte irgendwie fasziniert von dieser grossen (und vielleicht gerade deswegen gefährlichen) Idee. In der Schweiz erhoffen sich linke Kräfte eine leichtere Umsetzung ihrer Anliegen in einem Gebilde wie der EU als in der «so furchtbar» föderalistischen und direktdemokratischen Schweiz. Zudem gehört zentrale, einheitliche Politik zur DNA des Etatismus und Sozialismus.

RS: Kluge linke Liberalismus-Kritiker wie Colin Crouch haben darauf hingewiesen, dass vor allem multinationale Grosskonzerne von der Globalisierung profitieren – auf Kosten von KMU. Big Business und Big Government würden zusammenspannen – Stichwort Lobbyismus zur Beeinflussung der Gesetzgebung. Da hat er einen Punkt, finde ich.

GS: Ja, natürlich, hat er. Ich musste in meinen früheren Tätigkeiten Unternehmensführern immer wieder erklären, dass die Bejahung des Marktes und des Wettbewerbs gerade keine Sympathie für Marktmacht und Grösse bedeutet. Viele Vertreter der Wirtschaft sind ja in Sonntagsreden für den Markt, aber eigentlich streben sie eine marktmächtige Stellung an, und sie sind nicht unglücklich, wenn ihnen der Staat dabei hilft.

RS: Techfirmen wie Alphabet, Microsoft, Meta beherrschen den Markt der ganzen westlichen Welt, frei nach dem Motto: The winner takes it all. Eigentlich müssten Neoliberale für eine Zerschlagung der digitalen Konzerne votieren.

Eigentlich müssten Neoliberale für eine Zerschlagung der digitalen Konzerne votieren.
René Scheu

GS: Ja, die meisten Neoliberalen sind gegen solch dominante Marktmacht. Man sollte es aber nicht übertreiben. Während meiner Studienjahre galt IBM als fast ähnlich dominant wie heute Microsoft. Die nationalen Filialen des Unternehmens zählten in vielen Ländern zu den fünf oder zehn grössten Unternehmen. Der Ruf nach staatlicher Zähmung des Ungeheuers erschallte auch damals. Doch schliesslich haben die technische Entwick- lung und Managementfehler ganz ohne staatliche Eingriffe dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wuchsen.

RS: Milton Friedman war ein Befürworter der negativen Einkommenssteuer, einer Art minimaler Grundsicherung für alle mit Anreizen fürs Arbeiten, und dies anstelle des bürokratischen Sozialstaats. Auch hier – wo sind heute die Neoliberalen, die danach trachten?

GS: Es gibt schon vom Liberalismus her kommende Ökonomen, die das fordern, beispielsweise der in Hamburg lehrende Schweizer Thomas Straubhaar. Nur halte ich diese Leute in dieser Frage nicht für mutig, sondern für unrealistisch. Unrealistisch ist, dass man alle bestehende Sozialpolitik durch ein gleiches Grundeinkommen für alle ersetzt.

RS: Warum denn?

GS: Am ersten Tag nach der Einführung, ja noch davor würde man mit Recht darauf hinweisen, dass ein gesunder junger Mensch mit einem solchen Einkommen vielleicht ganz gut über die Runden kommt, aber alle möglichen anderen Sozialfälle (Ältere, Kranke, Behinderte) nicht. Die Sozialpolitik würde keineswegs entschlackt oder höchstens ein wenig. Zudem ist nur schon die Terminologie verheerend.

RS: Leistungsloses Grundeinkommen – das klingt frivol.

GS: Es klingt einfach abgrundtief falsch. Irgendeine Leistung steckt immer dahinter – nur nicht die des Empfängers. Die Vorstellung, dass alle wie eine Art Manna vom Himmel eine Grundsicherung erhalten sollen, auch jene, die diese nicht benötigen, führt weg von der Realität der Knappheit und der Notwendigkeit von Leistung.

RS: Zuletzt – wie neoliberal ist aus deiner Sicht die Eidgenossenschaft, von null bis zehn?

GS: Es gibt Institute, die Jahr für Jahr versuchen, die wirtschaftliche und politische Freiheit auf der Welt zu messen. Das ist methodisch nicht unproblematisch, aber sicher präziser als mein Bauchgefühl. In der letzten Untersuchung des kanadischen Fraser Institute und des amerikanischen Cato Institute, die Ende 2021 herauskam und die Situation vor Corona betrifft, schneidet die Schweiz von über 160 Ländern am besten ab, sie erreicht über neun von zehn möglichen Punkten. Nach meinem Gefühl ist neun etwas sehr hoch, und Grund zur Selbstzufriedenheit besteht schon insofern nicht, als die Schweiz gemäss der Studie unfreier geworden ist.

RS: Die Antwort ist defensiv, typisch schweizerisch – à la: «Wir dürfen uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen» oder «Wir sollten unseren Wohlstand nicht leichtfertig preisgeben». Bist du altersmilde geworden?

GS: Nun, wenn schon, denn schon «altersweise». Aber aus Reaktionen auf meine Artikel oder Vorträge weiss ich, dass viele meine Ansichten überhaupt nicht als «milde» ansehen. Ich sitze also zwischen vielen Stühlen – und fühle mich dort nicht unwohl.

NZZaS 27. Februar 2022, Seite 30-31

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