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Die Schweizer Mehrwertsteuer: Absurditäten zuhauf und ungenutztes Wohlstandspotenzial

In der Schweiz gibt es bei der Mehrwertsteuer drei verschiedene Sätze und zudem Ausnahmen für verschiedene Dienstleistungen. Das führt zu zahlreichen Ungereimtheiten und ist wohlstandsschädigend.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 24.01.2022

In einem Hotel kann es mit der Mehrwertsteuer kompliziert werden, je nachdem, welche Dienstleistungen man wie in Anspruch nimmt. Bild von Hans auf Pixabay

Bürgerliche Politiker betonen in ihren Sonntagsreden gerne, wie wichtig eine saubere Ordnungspolitik sei, aber selbst bei offensichtlichen Massnahmen zur Verbesserung der Standortqualität verlassen sie Mut und Kraft. Ein Beispiel ist die Mehrwertsteuer. Liberale Ordnungspolitik heisst, dass der Staat die Spielregeln des Wirtschaftens festlegt und sich Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, Produzenten wie Konsumenten innerhalb dieser Spielregeln frei bewegen und verhalten können.

Die Regeln sollten langfristig, stabil, vor allem aber allgemein und für alle gleichermassen gültig sein. Für die Erhebung einer Mehrwertsteuer hiesse das, dass die Steuer ausnahmslos fällig werden sollte, wenn jemand eine Ware oder Dienstleistung erwirbt, und dass der Satz immer gleich sein müsste.

Rücksichtnahme oder Bevorteilung?

Doch die Schweiz kennt drei Steuersätze, und gewisse Leistungen sind ganz von der Steuer ausgenommen, wobei die Steuerbefreiung nur scheinbar ist, da zugleich der Vorsteuerabzug wegfällt. Der Normalsteuersatz von 7,7 (ab 2024 sind es 8,1) Prozent gilt für alle Leistungen, die besteuert werden und nicht einem anderen Satz unterliegen. Der reduzierte Satz von 2,5 (2,6) Prozent wird auf Nahrungsmitteln und Zusatzstoffen erhoben, aber auch auf Medikamenten, Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Schnittblumen, Sträussen, Kränzen, Dünger, Pflanzenschutzmitteln und Mulch.

Der Sondersatz von 3,7 (3,8) Prozent gilt für Beherbergungsleistungen (einschliesslich Frühstück). Ganz ausgenommen sind beispielsweise ärztliche Behandlungen, Opernaufführungen, der Geld- und Kapitalverkehr, Versicherungen, Lotterieumsätze oder das Sozialwesen.

Die Begründung für solche Feinsteuerung lautet, man müsse politische Rücksichten nehmen und man wolle alle Steuern möglichst «sozial» gestalten. Doch «Rücksichtnahme» besteht hier in der Bevorteilung der Hotellerie gegenüber anderen Branchen. Und der reduzierte Satz für Nahrungsmittel nützt zumindest in absoluten Zahlen denen am meisten, die am meisten für sie ausgeben – und das sind nicht die Ärmsten.

Reduzierter Satz auch für Kaviar

Vor allem aber handelt man sich mit dem Wirrwarr Absurditäten zuhauf ein. Alkoholische Getränke gelten als Genussmittel und unterliegen dem Normalsatz. Nur: Ist das Nahrungsmittel Kaviar nicht auch ein Genussmittel? Der Hotelgast zahlt beim Frühstück den Sondersatz, bei der Minibar den Normalsatz. Beim Take-away gilt der reduzierte Satz, im Restaurant der Normalsatz. Wer der Freundin Blumen schickt, zahlt für den Strauss den reduzierten, für die Glückwunschkarte den normalen Satz.

Das sind wenige Müsterchen eines bürokratischen, kostspieligen, für den Normalbürger fast undurchschaubaren Systems. Ein Einheitssatz, der bei gleichem Steueraufkommen mehr als einen Prozentpunkt unter dem heutigen Normalsatz zu liegen käme, und die Reduktion der Ausnahmen (ganz ohne wird es kaum gehen) würden diese Mängel beheben und brächten beträchtliche Wohlstandsgewinne. Sie wurden schon vor fünfzehn Jahren auf 10 Milliarden Franken geschätzt. Solch offensichtliche Wohlstandspotenziale nicht zu heben, stellt der Schweizer Steuerpolitik kein gutes Zeugnis aus.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/ungenutzte-wohlstandspotenziale-bei-der-mehrwertsteuer-ld.1722562

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