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Schweizer Medizin-Eid: Hippokrates und der böse Markt

In der Schweiz wird neuerdings ein moderner Eid des Hippokrates geleistet. Er beinhaltet neben klassischen ärztlichen Verpflichtungen auch solche, die moderne Fehlentwicklungen ins Visier nehmen. Leider rücken die Promotoren Letztere ins Zentrum und verbinden sie mit einem Lamento über Markt, Ökonomisierung und Gewinnorientierung.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 21.02.2023

Ärzte sind in ihrem Beruf immer wieder mit ethischen Fragestellungen konfrontiert.

Ein befreundeter Arzt wies mich darauf hin, dass vorletzte Woche 36 Absolventinnen und Absolventen der Humanmedizin an der Universität Freiburg im Rahmen ihrer Diplomfeier den sogenannten Schweizer Medizin-Eid abgelegt hätten. Der Eid basiert auf der Genfer Deklaration des Weltärztebundes von 1948. Diese Declaration of Geneva wurde im Laufe der Zeit mehrfach revidiert, zuletzt im Jahr 2017, und stellt gewissermassen eine moderne Fassung des hippokratischen Eids dar, der in der abendländischen Kultur als erste grundlegende Formulierung ärztlicher Ethik gilt.

Vertrautes und Neuartiges

Es sei das erste Mal, dass sich ein Jahrgang von künftigen Ärztinnen und Ärzten (und eine Universität) wieder in Form eines Eids öffentlich zu ethischen Prinzipien bekenne, heisst es dazu vonseiten der Promotoren. Die eingegangenen Verpflichtungen wirken weitgehend vertraut, etwa, dass man den Beruf nach bestem Wissen und Gewissen ausübe, das Wohl der Patientinnen und Patienten als vorrangig erachte, vermeidbaren Schaden von ihnen abwende, ihre Rechte achte, ihren Willen wahre, ihre Bedürfnisse respektiere, sie ohne Ansehen der Person behandle, ihnen mit Wohlwollen begegne, sich für ihre Anliegen Zeit nehme und sich an das Arztgeheimnis halte.

Neu, aber angesichts von Fehlentwicklungen verständlich sind die Verpflichtungen, eine Medizin mit Augenmass zu betreiben, nur Massnahmen zu empfehlen bzw. zu ergreifen, die sinnvoll sind, und sich nur für Tätigkeiten, die medizinisch indiziert sind, bezahlen zu lassen.

Die Begleitmusik zu den vernünftigen Versprechen ist allerdings ärgerlich. Man bekommt den Eindruck, es gehe fast nur um die letztgenannten, neuen, wenn es heisst, der Eid thematisiere vor allem den wachsenden ökonomischen Druck, dem Gesundheitssystem und Ärzteschaft ausgesetzt seien. Die zunehmend einseitige Orientierung des Gesundheitswesens am marktwirtschaftlichen Prinzip gefährde das Wohl der Patientinnen und Patienten und des Gesundheitspersonals. Gesundheit sei ein öffentliches Gut und könne sich nicht nur am marktwirtschaftlichen Grundprinzip und an finanziellen Aspekten orientieren.

Schreckgespenst Markt

Solche Aussagen sind leider symptomatisch für wenig marktwirtschaftlich organisierte Bereiche wie Bildungswesen, Kultursektor und Gesundheitssystem. Entgegen allen Fakten – der Gesundheitssektor ist mindestens halbstaatlich – wird das Schreckgespenst einer überbordenden Ökonomisierung und Orientierung am Markt an die Wand gemalt, statt dass die staatlich getriebene Bürokratisierung angeprangert würde.

Bereicherung und Gier, die in diesen angeblich moralisch besseren, da weniger gewinnorientierten Teilen der Gesellschaft zu beobachten sind, werden dem «System» angelastet und nicht den Menschen, die sich in ihm bewegen. Zudem wird ausgeblendet, wie sehr diese Bereiche von der gewinnorientierten Marktwirtschaft profitieren, dank massiven Transferzahlungen ebenso wie – gerade in der Medizin – dank technologischem Fortschritt, der nicht nur, aber auch auf der Marktwirtschaft basiert. Vor diesem Hintergrund wirkt die Selbstverständlichkeit, mit der da – im konkreten Fall von Exponenten des Gesundheitswesen – jeweils auf die Marktwirtschaft und die Gewinnorientierung eingeprügelt wird, unbedarft oder unverfroren.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

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