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Links, zeitgeistig und machtverliebt

Liberale Gedanken zu den Intellektuellen

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Tito Tettamanti | Oliver Zimmer
Mit weiteren Beiträgen von René Scheu und Gerhard Schwarz

Titelbild und Bild links: Photo a head full of ideas a head of light bulbs collage art. Freepik.com

ISBN 978-3-907439-01-2
© 2023

Inhalt

Vorwort
In Kürze

Oliver Zimmer
1 | Intellektuelle: Wer sie sind und wo sie heute stehen

Gerhard Schwarz
2 | Ist der Liberalismus zu nüchtern?
Eine Handvoll Gedanken zu Friedrich August von Hayek, George Stigler und James Buchanan

René Scheu | Gerhard Schwarz
3 | Das Streben nach dem Paradies ist verheerend.
Ein lockerer Austausch über Anmassung, Moralismus und Ressentiments der Intellektuellen

Tito Tettamanti
4 | Diskursdiktatur des linken Progressismus
Die schleichende soziale Revolution

Die Autoren


Vorwort

Es entspreche eben dem Zeitgeist, und gegen diesen sei kein Kraut gewachsen: So tönt es oft halb erklärend, halb resignierend, wenn zu fortgesetztem Male eine Debatte vorzeitig abgewürgt, ja vielleicht nicht einmal begonnen wurde, weil gewissen Argumenten ein Tabu im Wege stand. Etwa das Tabu, dass man den menschlichen Anteil am Klimawandel nicht hinterfragen darf. Oder nicht der Ansicht sein darf, die Betreuung von Kindern durch die eigene Mutter sei jener durch eine KITA vorzuziehen. Oder die Aufhebung getrennter Toiletten für Männer und Frauen nicht für finanziellen und gesellschaftlich-hygienischen Unsinn halten darf.

«Zeitgeist» ist eine Entschuldigung, die wenig besagt und nichts erklärt. Ausser vielleicht, dass dem Zeitgeist schwer beizukommen ist. Er ist wie zäher Schleim im gesellschaftlichen Diskurs, er lässt Gespräche verstummen und den Normalbürger frustriert, weil macht- und ratlos, zurück. «Normal» ist ohnehin verdächtig geworden, denn überall lauern nichtnormale Benachteiligte, auf deren Kosten gewaltähnliche Strukturen angeblich zustande gekommen sind und aufrechterhalten werden. Wer nicht zu den Benachteiligten gehört, soll gefälligst still sein, denn er trägt die Kollektivverantwortung für alle Übel der Welt, vom Klimawandel über Diskriminierungen aller Art bis zur sich vergrössernden Schere zwischen Arm und Reich.

Was in aller Welt hat dazu geführt, dass heute in mancherlei Hinsicht nur noch so und nicht anders geredet und geschrieben werden kann? Woher rühren die Denkverbote? Weshalb grassieren die aufklärungsfeindlichen Mantras ausgerechnet an Universitäten und in intellektuellen Zirkeln? Wie erklärt sich, dass «wokes» Argumentieren sogar in Verwaltungsräten von Firmen den unaufhaltsamen Siegeszug angetreten hat?

Mit der vorliegenden Schrift will die Progress Foundation, einen Beitrag zur Erklärung der um sich greifenden Denkverbotsepidemie leisten. Sie ist bedrohlich, denn sie gefährdet ausgerechnet jene Gesellschaften und Staaten, die als frei gelten, in denen wir uns wohl fühlen und aus denen, wenn schon, jener Fortschritt zu erwarten wäre, der uns aus den anscheinend oder scheinbar katastrophalen Problemen wie der Klimakrise führen kann.

Die hier ausgebreiteten «Narrative» – früher hätte man von Aufsätzen oder, etwas nobler, Essays gesprochen – sind mehr als «Denkanstösse», wie die Progress Foundation in gewollter Bescheidenheit ihre neue Heftserie nennt. In allen drei Fällen nehmen die Autoren Tito Tettamanti, Gerhard Schwarz (sekundiert durch Gesprächspartner René Scheu) und Oliver Zimmer eine saubere Beweisführung für ihre Thesen vor. Das Reizvolle daran ist, dass sich Unterschiedlichkeit im Ansatz und Kongruenz im Ergebnis sozusagen die Hände reichen.

Der Unternehmer-Philosoph Tito Tettamanti, der Journalist- Philosoph Gerhard Schwarz und der Historiker-Philosoph Oliver Zimmer: Sie bilden ein sokratisches Dream-Team, wenn man dem so sagen kann. Wenn es ein Antidot gegen einen entgleisten Zeitgeist gibt, dann jenes eines offenen, ernsthaften und doch gewitzten Diskurses. Im Namen der Progress Foundation wünsche ich eine erhellende Lektüre.

Konrad Hummler
Vizepräsident der Progress Foundation


In Kürze

Der vorliegende Denkanstoss der Progress Foundation, Zürich, ist der Frage gewidmet, weshalb sich der Vormarsch nicht-freiheitlichen Gedankenguts durch die Gesellschaft und ihre Institutionen so schwer aufhalten lässt. Drei Autoren, drei Sichtweisen, eine Einsicht: Die Immunisierung beginnt in Kopf und Herz der Einzelnen.

Der Unternehmer und Financier Tito Tettamanti ortet den Hauptgrund für das Malaise in einer ausdrücklich erdachten und gewollten Strategie des französischen Philosophenehepaars Mouffe-Laclau. Dieses habe dem klassischen Sozialismus und dessen Konzentration auf die Arbeiterklasse den geistigen Todesstoss versetzt und habe stattdessen die wie auch immer Benachteiligten dieser Welt zum revolutionären Proletariat erhoben. Die Phase 1 dieses Vorgangs, nämlich der Siegeszug der Benachteiligten aller Nationen durch die Institutionen freier Staaten und Gesellschaften, sei erfolgreich abgeschlossen. Was nun gemäss Tettamanti als Phase 2 folgt, wird der absolute politische Machtanspruch und auf dem Weg dazu die Ablehnung demokratischer, föderalistischer und rechtsstaatlicher Eindämmung von Gewalt und Macht sein.

Der Publizist Gerhard Schwarz arbeitet sich an der Affinität von Intellektuellen zu Utopien ab. Den Vorwurf mangelnder Praxisorientierung von Intellektuellen weist er als nicht hinreichend zurück. Vielmehr ortet er Denkfehler und illusorische Vorstellungen bei der gedanklichen Arbeit zum Übergang von der Utopie zur strategischen Zielsetzung. Daraus leitet sich letztlich auch eine erschreckende Bereitschaft intellektueller und kulturell orientierter Kreise ab, der Gewalt zur Verwirklichung utopischer Ziele zuzustimmen. Der Lesbarkeit grundsätzlich schwerer Kost ist es zuträglich, dass ein Teil der Überlegungen von Gerhard Schwarz in Gesprächsform niedergelegt ist. So begegnen sich René Scheu, früherer Feuilletonchef der NZZ, und der langjährige Chef der NZZ-Wirtschaftsredaktion auf gedanklicher Augenhöhe. Schwarz weist beispielhaft auf den Unterschied hin zwischen einer nach vorne offenen Utopie, wie sie Friedrich August von Hayek in seinen gesellschaftsphilosophischen Schriften skizziert hatte, und den deterministischen Gesellschaftsmodellen, wie sie den Sozialismus und die weniger stringent formulierten anderen Totalitarismen kennzeichnen.

Der Historiker Oliver Zimmer beschäftigt sich schliesslich eingehend mit dem Phänomen, dass der «neumodische Liberalismus» im Gegensatz zum klassischen Liberalismus fälschlicherweise von einem idealen Endzustand der gesellschaftlichen und damit geschichtlichen Entwicklung ausgehe und auf diese Weise einem deterministischen, ja eschatologischen Glauben anhänge. In der Tat muten Vorstellungen über den von einem «Weltethos» beherrschten und von irgendwelchen nichtgewählten Kräften regierten Erdball endzeitlich und angesichts der realen Zerwürfnisse reichlich utopisch an. Oliver Zimmer hält der Wirtschaftselite und ihren Vordenkern den Spiegel vor, indem er den «neumodischen Liberalen» sozusagen axiomatischen Verrat vorwirft. Wer Freiheit denkt und meint, kommt nämlich um die Ungewissheit jeglichen Ausgangs und um die damit verbundene, unabdingbare Wahrnehmung von Verantwortung nicht herum. Die Gewissheit der «neumodischen Liberalen» und ihre Distanz zu demokratischen Korrekturprozessen entspricht einem Widerspruch in sich selbst und ist verheerend, auch und gerade, wenn sie in technokratischer Begrifflichkeit von einer sich globalistisch gebenden Priesterschaft vorgetragen wird.


Oliver Zimmer*

1 Intellektuelle: Wer sie sind und wo sie heute stehen

Um mein Argument vorwegzunehmen: Was Intellektuelle heute auszeichnet, ist ihre mangelnde Distanz zur Macht. Anstatt ihrer Aufgabe als Kritiker der Mächtigen in Staat, Politik und Wirtschaft nachzukommen, trachten viele Intellektuelle nach institutionellem Einfluss und weltanschaulicher Geschlossenheit. Seit den siebziger Jahren ähnelt das intellektuelle Milieu zudem einer Profession, die sich über bestimmte Verhaltenscodes und Sanktionsmechanismen reproduziert. Die Teilnahme am öffentlichen Streit um die Wahrheit ist für viele Intellektuelle seither weniger wichtig als die Verteidigung angeblich alternativloser Wahrheiten gegen Kritik. Ermöglicht wurde diese Verwandlung durch die Fusion progressistischer und linker Utopien. Beiden gemeinsam ist ein moralischer Universalismus, der sich in der Geringschätzung bürgerlicher Loyalitäten manifestiert. Zurzeit ist es deshalb der bürgerliche Non-Konformist, der am ehesten in der Lage wäre, die Rolle des Kritikers der Mächtigen zu spielen.

I said to the Rabbi: «I’ve found the truth. I don’t believe in God. I’m joining the Young People’s Socialist League.» So he looked at me and said, «Kid, you don’t believe in God. Tell me, do you think God cares?» Der Soziologe Daniel Bell anlässlich seiner Bar Mizva, 19321

* Kontakt: Centre for Research in Economics, Management and the Arts (CREMA), Südstrasse 11, 8008 Zürich. Email: oliver.zimmer@crema-research.ch. Für Kommentare und Feedback bedanke ich mich bei Heinrich Christen und Tobias Straumann. Gerhard Schwarz gelang es dank seiner von Takt und Scharfsinn geprägten Hartnäckigkeit, mich zum Schreiben über die Intellektuellen zu bewegen, wofür ich ihm herzlich danke.

1 Michael Weiss, «The Bell Curve», The New Criterion, vol. 41, no. 1. (2022)

Wer sie sind

Die Frage, wer die Intellektuellen sind und wo sie heute stehen, öffnet ein weites thematisches Feld. Die Literatur dazu würde selbst dann eine kleine Bibliothek füllen, wenn durchaus relevante Quelleneditionen – etwa zur Reformation, zur Glorious Revolution, zu den Philosophes des 18. und den Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts – darin keine Aufnahme fänden. Sogar ein Abriss der neusten Literatur zum Thema wäre in der gebotenen Kürze kaum zu leisten. Obschon der Begriff des Intellektuellen – als Hauptwort, das eine gesellschaftliche Rolle bezeichnet – erst am Ende des 19. Jahrhunderts (von Emile Zola während der Dreyfus-Affäre) geprägt wurde, enthält der geistige Wurzelgrund, der die Bildung intellektueller Milieus ermöglichte, auch deutlich ältere historische Schichten.2

Wer das Thema einigermassen gehaltvoll behandeln will, sieht sich somit gezwungen, Schneisen zu schlagen. Um eingangs etwas Ordnung zu schaffen, möchte ich mit einer Definition beginnen. Weil es mir um eine historische Rekonstruktion in analytischer Absicht geht, sollte diese Definition nicht zu eng sein. Die Frage, wer ein genuiner Intellektueller sei und wer nicht, überlasse ich gerne anderen. Mich interessiert, wie sich das Selbstverständnis und die Tätigkeit Intellektueller über die Zeit verändert haben. Eine dieser Fragestellung angemessene Definition hat der Soziologe Pierre Bourdieu formuliert: «Einfach gesagt, handelt es sich beim Intellektuellen um einen Schriftsteller, Künstler oder Wissenschaftler, der sich, kraft der Kompetenz, die er sich auf seinem Gebiet erworben hat, in die politische Debatte einbringt.»3 Was bringt Intellektuelle dazu, sich einzumischen? Für Bourdieu ist es das Bedürfnis nach einem höheren Sinn, das Intellektuelle in unseren säkularisierten Gesellschaften bedienen: «Ich denke, der Kollaps der eschatologischen Illusionen … führt für viele Menschen zu einem Sinnproblem, das junge Menschen genauso betrifft wie Männer und Frauen in gesetztem Alter. Deshalb ziehe ich es bei aller Unsicherheit vor, eine Utopie zu lancieren, anstatt all die Menschen aufzugeben, die unter diesem Zustand der Verlassenheit leiden.»4

Die Bereitschaft, den Schreibtisch, das Atelier oder den Elfenbeinturm zumindest im übertragenen Sinne zu verlassen und sich sinnstiftend in eine politische Debatte einzubringen – das ist es, was für Bourdieu die Rolle des Intellektuellen ausmacht. Wie sie politisch ticken beziehungsweise argumentieren, spielt dabei keine Rolle. So hat es neben linken auch liberal oder konservativ eingestellte Intellektuelle gegeben. Oder waren Edmund Burke, Alexis de Tocqueville oder Michael Oakeshott etwa keine Intellektuellen? Und was ist mit Michel Houellebecq oder Thomas Hürlimann? Die stehen zwar selbstredend nicht links und würden sich kaum als Intellektuelle bezeichnen, sondern eher als Schriftsteller oder Künstler; doch das, was sie seit Jahrzehnten tun, erfüllt Bourdieus Definition des Intellektuellen zumindest teilweise.5

Dass sich die Frage nach der politischen Couleur bei diesem Thema nicht nur sogleich stellt, sondern auch die immergleiche Antwort hervorzurufen scheint, ist bezeichnend: Die Intellektuellen stehen links, so lautet das gängige Bild, das sich dem Selbstverständnis der historisch gesehen tonangebenden politischen Milieus verdankt. Während der Begriff des Intellektuellen auf der politischen Linken als eine Art Ehrentitel getragen wird, löst er bei Liberalen und besonders bei Konservativen tendenziell Skepsis aus. Sogar moderate Linke gingen zu den Intellektuellen immer wieder auf Distanz. So schrieb der britische Schriftsteller Kingsley Amis Ende der 1950er Jahre: «I share a widespread suspicion of the professional espouser of causes, the do-gooder, the archetypical social worker who knows better than I do what is good for me.» Es war also genau die von Bourdieu als typisch intellektuell beschriebene Disposition – der Drang zur übergeordneten, ins Universale ausgreifenden Sinnstiftung –, der dem jungen, der Labour Party zugewandten Amis missfiel. Dagegen erfuhr er das Einstehen für die eigenen Interessen (das er in seiner schamlosesten Form bei den englischen Tories ausmachte) als nachgerade Vertrauen einflössend.6

2 Caspar Hirschi, Skandalexperten und Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems (Berlin, 2018), Kapitel V.
3 Pierre Bourdieu, «The Role of the Intellectual», A Journal of Social and Political Theory, June 2002, no. 99, p. 3.
4 Ibid.
5 Michel Houellebecq, «Europa steht vor dem Selbstmord», NZZ, 27.09.2016. Thomas Hürlimann, «Ich bin in Berlin zum Patrioten geworden», NZZ, 30.07.2022.
6 Kingsley Amis, Socialism and the Intellectuals (London: Fabian Tract 304, 1957), p. 13.

Wo sie stehen

Doch nun zur Frage, wie sich das Bewusstsein und die Position der Intellektuellen in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Ich will diese Frage angehen, indem ich zunächst zwei herausragenden Gelehrten – dem Ökonomen Friedrich von Hayek (1899 – 1992) und dem (1931 geborenen) Historiker Pierre Nora – das Wort erteile. Beide haben die Situation der Intellektuellen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Wissensbestände und Erfahrungen erörtert. Ja, sie gingen noch einen Schritt weiter: Sie gaben den Intellektuellen mehr (im Falle von Hayek) oder weniger (im Falle von Nora) explizite Empfehlungen mit auf den Weg.7

So forderte Hayek die Liberalen unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg auf, es den Sozialisten gleich zu tun und eine politische Utopie zu entwickeln. Fast drei Jahrzehnte später empfahl der Historiker Pierre Nora den französischen Intellektuellen, ihr enges Verhältnis zur Staatsmacht zu lockern und ihren Wahrheitsanspruch zu zügeln. Während Hayeks Rat sich also vorwiegend auf den weltanschaulichen Kosmos des Liberalismus bezog, stellte Nora das Verhältnis der Intellektuellen zur Macht ins Zentrum seiner Betrachtungen. Beide hielten die Intellektuellen unter den Bedingungen der Moderne für unentbehrlich.

Doch inwieweit wurden ihre Ratschläge umgesetzt?

Kurz und bündig gesagt: Hayeks Wunsch ging in Erfüllung. Ein Teil der liberalen Bewegung machte sich spätestens ab den 1960er Jahren daran, eine eigene Utopie zu entwickeln. Nicht weil Hayek sie dazu aufgefordert hatte, sondern weil die Bereitschaft, utopische Ziele zu verfolgen, nach der Katastrophe der beiden Weltkrieg auch im liberalen Lager ausgeprägt war. Dass dies bis heute von Liberalen kaum reflektiert wird, ist ein interessantes, wenn auch noch kaum erforschtes Phänomen. Zum Vorbild nahmen sich diese Liberalen selbstverständlich nicht den Marxismus; noch war es der von Hayek vertretene klassische Liberalismus, der ihnen als Richtschnur diente. Wie ich bereits an anderer Stelle argumentiert habe, waren es vielmehr die Geschichtsphilosophien von Kant und Hegel. Genauer gesagt: Jene Versatzstücke dieser Philosophien, die in unseren Breitengraden seit über hundert Jahren als gesunkenes Kulturgut frei zirkulieren. Ob man insbesondere Hegel gelesen hatte, spielte dabei schon damals keine Rolle.8 Dagegen sollte sich Pierre Noras Wunsch nach einer Distanzierung der Intellektuellen von der Macht nicht erfüllen. Die Tendenzen, die das intellektuelle Milieu seit der Bildungsexpansion der Nachkriegszeit kennzeichnen – die Professionalisierung im universitären Bildungsbetrieb; die Bemühung um weltanschauliche Geschlossenheit –, haben sich verstetigt.

7 Pierre Nora, «Que peuvent les intellectuels», Le Débat, no. 1 (1980), pp. 3 – 19. F. A. v. Hayek: «Die Intellektuellen und der Sozialismus», Schweizer Monat 1085 (April 2021), pp. 26 – 36. Hayeks Aufsatz war ursprünglich 1949 in den Schweizer Monatsheften erschienen.
8 Karl Poppers Bewertung des Hegelianismus als gesunkenes Kulturgut trifft unverändert zu «It is so much a part of their intellectual atmosphere that, for many, it is no more noticeable … than the air they breathe.» Karl Popper, The Open Society and ist Enemies (Abingdon: Routledge 2002 [1945]), p. 288.

Räume statt Orte: Der neue Liberalismus und die Intellektuellen

Hayek formulierte seine Thesen zu den Intellektuellen in einem 1949 publizierten Essay mit dem Titel «Die Intellektuellen und der Sozialismus».9 Er tat dies auf dem Höhepunkt seiner geistigen Schaffenskraft, zur Zeit seines akademischen Wechsels von London nach Chicago. Seine Überlegung lautet, vereinfacht gesagt: Ein Liberalismus, der sich lediglich auf die Lösung von Sachfragen spezialisiert, ist für Intellektuelle unattraktiv. Er ist es deshalb, weil Intellektuelle eine ausgeprägte Schwäche für die systematische Spekulation besitzen, mithin für Theorien, die unser weltliches Dasein umfassend erklären. Sie sehnen sich – und hier ging der liberale Ökonom Hayek mit dem linken Soziologen Bourdieu einig – nach einem Leitdiskurs, der den Menschen einen sinnstiftenden Weg in die Zukunft weist. Und weil Intellektuelle für eine politische Bewegung wichtig sind, forderte Hayek von den Liberalen, diesen Experten für das Hier und Jetzt, dass sie sich vermehrt dem Übermorgen zuwenden: «Der Mut zur Utopie ist für den Sozialismus eine Quelle der Kraft, die dem traditionellen Liberalismus leider fehlt.» 10 Rund fünfzig Jahre später wiederholte James Buchanan die Forderung nach einer liberalen Utopie in einer publizierten Vorlesung. Dabei erinnerte er sein Publikum daran, dass der klassische Liberalismus durchaus eine «transzendente Vision» besitze, eine «Seele» im Sinne eines «Lebensgeistes» («animating spirit »). Das Leitbild dieses Liberalismus sei «the shining city on the hill»: ein freies Gemeinwesen, dessen Zusammenhalt sich der individuellen Freiheit seiner Mitglieder verdankt. 11

Ich habe die Bewegung, die sich nach dem 2. Weltkrieg einer transzendenten politischen Vision verschrieb, an anderer Stelle den neumodischen Liberalismus genannt. Ihre Inspiration bezog sie aus einer Ideologie, die ich als Kant-Hegelschen Entwicklungsroman bezeichnet habe.12 Während Kant den Fortschritt in der Schaffung einer gerechten menschlichen Verfassung erkannte, sah Hegel diesen im Aufstieg eines Verfassungsstaats, an dessen Spitze eine weise Beamtenklasse steht. Mit seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte versuchte Hegel explizit eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes. Er wollte den «Endzweck der Welt» über den Geist der Weltgeschichte bestimmen. Aus diesem historischen Entwicklungsroman entstanden die Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts. Ihre Anziehungskraft hat der englische Philosoph John Gray folgendermassen beschrieben: «Fortschritt verspricht die Befreiung von der Zeit – die Hoffnung, wonach der atemberaubende Aufstieg unserer Spezies uns vor der Bedeutungslosigkeit bewahren möge.»13 Der Glaube an den menschlichen Fortschritt ersetzt den Glauben an die göttliche Vorsehung.14

Mit den von Hayek und Buchanan vertretenen klassischen liberalen Werten hat der neumodische Liberalismus, der sich an diesem Entwicklungsnarrativ orientiert, nur wenig gemeinsam. Noch handelt es sich dabei um jenen weltanschaulichen Komplex, der heute (meistens in schlagwortartiger Absicht) als Neoliberalismus bezeichnet wird. 15 In der Ideologie des neumodischen Liberalismus verbindet sich das moralische Bekenntnis zu einer universalen Ordnung mit der kritischen Distanz zum Nationalstaat, der als die reaktionärste Ausgeburt eines rückständigen Partikularismus empfunden wird. Im Zentrum steht dabei die Überzeugung, dass nach universalen Werten konstruierte Räume besser in der Lage seien, uns den Frieden und die Prosperität zu erhalten als eine von historischen Orten geprägte Welt. Fortschritt vollzieht sich im Kant-Hegelschen Entwicklungsroman als Überwindung lokaler Lebenswelten zugunsten einer kosmopolitischen Moral des Raumes. Über Global Governance, die Diffusion von Soft Law oder den Ausbau supranationaler Bürgerrechte werden demokratisch verfasste Gemeinwesen – unter dem Banner einer der Gerechtigkeit verpflichteten universalen Vernunft – entpolitisiert.

Nicht etwa, dass der neumodische Liberalismus historische Orte – deren Bandbreite reicht von kleinen Bürgergemeinden bis zur «imagined community» des Nationalstaats (Benedict Anderson) – pauschal zur Problemzone erklären würde. Als staatliche Verwaltungsdistrikte wie als Bühne für touristische oder folkloristische Aktivitäten sind sie ihm stets herzlich willkommen. Solange sie auf ihre angestammten politischen Rechte und Kompetenzen verzichten, gelten sie als unproblematisch. Denn darum geht es beim neumodischen Liberalismus: um die Entpolitisierung einer als «unzeitgemäss» empfundenen Ordnung. Seine Advokaten befürworten den Kompetenztransfer von der Politik an transnationale Gerichte, was eine radikale Infragestellung des liberalen Rechtsstaats in seiner klassischen (positivistischen) Konzeption bedeutet. Früher hätte man hier – politologisch gesehen ungleich präziser – von einem Transfer der Grundlagen legitimer Macht oder Herrschaft gesprochen.16

Begünstigt wurde die neumodisch-liberale Utopie der Entgrenzung von der Kommunikationsrevolution und den politischen Reformen des 19. Jahrhunderts. Damals begannen prominente Zeitgenossen in allen westlichen Ländern, den vermeintlichen Triumph der Menschheit über Raum und Zeit zu feiern. Dessen herausragende Symbole waren die Eisenbahn und der Telegraf. Die ersten Apologeten der Idee eines technisch induzierten «Global Village» finden sich deshalb nicht zufällig im viktorianischen England, wobei es vorab nonkonformistisch-protestantische Liberale waren, die diesen Glauben, oft unter Einsatz religiöser Metaphern, verbreiteten.17 Doch auch Liberale in anderen Ländern, etwa der deutsche Nationalökonom Friedrich List, sahen den Nationalstaat lediglich als Wegmarke auf dem Weg der Errichtung einer künftigen (christlich geprägten) Weltgemeinschaft.18

Diese Ideologie des Raumes hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Weise radikalisiert, die weit über das hinausgeht, was sich seither an tatsächlichem strukturellem Wandel ereignet hat. 19 Im Zuge von Zerstörung und Massenmord brach sich eine wirkmächtige Doktrin Bahn: Die von der Globalisierung produzierten Krisen dienen seither als Legitimation für den Ruf nach mehr supranationalen Lösungen im Bereich der Wirtschaft, des Rechts, der Umwelt-, Sicherheitsund Gesundheitspolitik. Das routinemässig betriebene Outsourcing im Bereich der Energieversorgung oder der Landesverteidigung, das sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr schönreden lässt, bietet ein eindrückliches Beispiel für die realhistorischen Konsequenzen dieser Entgrenzung. Der moralische Kreuzzug gegen starke Orte, der dabei als ideologisches Schmiermittel diente, war staatspolitisch folgenreich: An die Stelle demokratischer Teilnahme tritt zunehmend eine ihrer Substanz entleerte Formaldemokratie.20

Die diesen Vorgang legitimierende Weltanschauung lässt sich deshalb als hegelianisch beschreiben, weil ihre Advokaten davon ausgehen, dass die gerade dominante Wirklichkeit den Fortschritt schlechthin verkörpert. Dass Hegel diesen im national konzipierten Staat sah, war zeitbedingt: Der Staat, zumal der preussisch-deutsche, wurde damals aufgrund seines verwaltungstechnischen Niveaus weitherum als der modernste Machtapparat weit und breit betrachtet. Deshalb und nicht, weil er den Nationalstaat adeln wollte, benutzte ihn Hegel zur Illustration seines philosophischen Konstrukts. Würde Hegel heute leben, wäre sein bevorzugtes Beispiel wohl die supranationale, am technokratischen Ideal des aufgeklärten Absolutismus orientierte Staatlichkeit der Europäischen Union. Ein Indiz für diese Vermutung ist auf unseren Bücherregalen greifbar: Als der einstmals bekennende Hegelianer Francis Fukuyama an seiner These vom «Ende der Geschichte» laborierte, hatte die Eule der Minerva den Nationalstaat bereits, wenn auch nicht verlassen, so doch unter scharfen Konkurrenzdruck gesetzt.21

Spätestens an dieser Stelle sollte man sich Schopenhauers Urteil über Hegels Geschichtsphilosophie zu Gemüte führen, denn niemand hat den im preussischen Staatsdienst stehenden Schwaben aus Stuttgart gründlicher durchschaut als der in Danzig geborene philosophische Aussenseiter. Hegels zentrale Doktrin lautet nach Schopenhauer: Was sich in der politischen Wirklichkeit durchsetzt, indem es alternativen Gemeinwesen die Grundlage entzieht, dokumentiert damit seine historische Notwendigkeit wie seine moralische Höherwertigkeit. Dadurch werden kleinere Regionen – etwa Hegels Württemberg – oder ganze Weltteile – etwa Afrika, Indien oder der Ferne Osten, die Hegel primär aus der gelehrten Gerüchteküche kannte – zu historischen Irrelevanzen – zu «Warteräumen der Geschichte» (Dipesh Chakrabarty) – relegiert.

Was bringt mich dazu, diesen neumodischen Liberalismus als Utopie zu bezeichnen? Vor allem der Umstand, dass hier ein säkulares Erlösungsnarrativ als realistische Diagnose der Wirklichkeit postuliert wird. Was es mit linken, marxistisch oder postmarxistisch inspirierten Erlösungsnarrativen teilt, ist – neben der Ideologie der universalen Entgrenzung und dem Geschichtsdeterminismus – die Ablehnung einer demokratischen Kontrolle der Staatsmacht. Diese Ablehnung erfolgt zwar selten ausdrücklich, sie folgt jedoch zwingend aus der Logik der ihm zugrunde liegenden Weltanschauung. Der Grund, weshalb ein Teil der liberalen Bewegung den mächtigen Interventionsstaat in vielen Bereichen schon lange befürwortet – seit jeher im Bereich der Kultur und der Bildung (Stichwort «Kulturkampf») und von Law and Order, heutzutage jedoch auch auf vielen anderen Feldern, einschliesslich Energie, Umwelt, soziale Wohlfahrt und Gesundheit –, ist teilweise in seinem utopischen Kern zu suchen. Dies erklärt auch, weshalb neumodisch-liberale und linke Gruppierungen – trotz ihrer gegenläufigen Diskurse – heute in vielen Parlamenten ähnlich votieren. Und weshalb diese Allianzen dort, wo das politische System keine plebiszitären Korrekturmechanismen kennt (also in fast allen westlichen Demokratien), Koalitionen begünstigen, deren Programm die Staatsquote in die Höhe treibt und das Rent-Seeking hervorragend vernetzter privater wie öffentlicher Player fördert.22

Auf manche Zeitgenossen, die sich als liberal definieren, mag meine Diagnose irritierend wirken. Einigen mag sie fragwürdig erscheinen. Darüber müsste man schon deshalb diskutieren, weil die offene und undogmatisch geführte Diskussion zur liberalen DNA gehören sollte. Es wäre jedenfalls im Interesse Liberaler, sich selbstkritischer mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen; ohne Flucht in die beliebten Klischees, die das liberale Selbstbild bis heute prägen. Dadurch würde jenes Problem ins Blickfeld rücken, um das es mir einzig und allein geht: Der bürgerliche Liberalismus ist heute gegenüber seinem utopisch gestimmten Verwandten auf dem Rückzug.

9 Hayek, «Die Intellektuellen und der Sozialismus».
10 Ibid, S. 32.
11 James Buchanan, «The Soul of Classical Liberalism», The Independent Review, vol. V, no. 1 (2000), pp. 111 – 119.
12 Oliver Zimmer, Wer hat Angst vor Tell. Unzeitgemässes zur Demokratie (Basel: Echtzeit, 2020), pp. 24 – 28. Siehe neuerdings auch das Vorwort und die ersten vier Kapitel in Bruno S. Frey, Oliver Zimmer, Mehr Demokratie wagen. Für eine Teilhabe aller (Berlin: Aufbau-Verlag, 2023).
13 John Gray, Stray Dogs (London, 2002), p. 194. Siegfried Kracauer, History. The Last Things before the Last (Princeton, 1969), p. 148-149. Siehe auch John Gray, «Agonistic Liberalism», Social Philosophy and Policy, vol. 12, issue 1 (1995), p. 111 – 135.
14 Christopher Lasch, The True and Only Heaven. Progress and its Critics (New York: W. W. Norton, 1991).
15 Zum Thema äusserte sich kürzlich Harold James, «Neoliberalism and its Interlocutors », Capitalism: A Journal of History and Economics, vol. 1, no. 2 (2020), pp. 484-518.
16 Grundlegend zum Begriff des Rechtsstaats: Tom Bingham, The Rule of Law (London: Penguin, 2010); Jonathan Sumption, Trials of the State: Law and the Decline of Politics (London, 2019); Zimmer, Wer hat Angst vor Tell, Kapitel «Die neuen Priester». Siehe auch die beiden scharfsinnigen rechtsphilosophischen Kommentare von Peter Kurer: «Freiheit durch Recht», Schweizer Monat, Ausgabe 1031 (November 2015); «Recht: Vom Festland in den Treibsand», Schweizer Monat 1100 (Oktober 2022), p. 46.
17 Oliver Zimmer, «Die Ungeduld mit der Zeit. Britische und deutsche Bahnpassagiere im Eisenbahnzeitalter», Historische Zeitschrift, Band 308, Heft 1 (2019), 46 – 80; derselbe, «Ein Fortschrittsapostel der besonderen Art. Wie Matthew Arnold England erneuern und die Welt erlösen wollte», Neue Zürcher Zeitung, 07.09.2022.» Zu den USA, siehe Lasch, The One and Only Heaven.
18 Friedrich List, Das nationale System der politischen Ökonomie (1841).
19 Ausser man verwendet einen verdünnten Strukturbegriff, der die Wirklichkeit mit dem World-Wide-Web oder den Träumen ausgewählter «Global Leaders» gleichsetzt. Ein prominentes Beispiel einer solchen Konflagration liefert Thomas Friedman, The World is Flat (New Yourk: Penguin, 2005). Wer zum Thema Substanzielles vernehmen will, sollte es mit einer brillanten historischen Synthese versuchen: Christopher A. Bailey, The Birth of the Modern World (Oxford: Blackwell, 2005).
20 Frey und Zimmer, Mehr Demokratie wagen, Einleitung. Zur Auslagerung staatspolitischer Verantwortlichkeit, siehe Tobias Straumann und Oliver Zimmer, «Nur nicht ausscheren!», Neue Zürcher Zeitung, 24.10.2022.
21 Francis Fukuyama, «The End of History», The National Interest, vol. 32, no. 2 (1989), pp. 37 – 44. Auch James Buchanan identifiziert ein Abdriften vormals liberaler Milieus in jenes hegelianische Fahrwasser, das bereits im 19. Jahrhundert begann. Buchanan nennt sie die «Hegel-inspired idealists, who transferred personal realization to a collective psyche and away from the individual». Buchanan, «The Soul of Classical Liberalism», p. 115
22 Was diese Entwicklung in vielen Fällen legitimiert, ist eine eine Ideologie der Meritokratie. Zu diesem Phänomen siehe das wichtige Buch von Michael J. Sandel, The Tyranny of Merit: What’s Become oft he Common Good? (New York: Penguin, 2019).

Selbst-Domestizierung: Die Intellektuellen als neuer Stand

Spulen wir den Film ein paar Jahrzehnte vorwärts, von 1949 in die späten 1970er Jahre. Nun war es also nicht mehr allein die Linke, die das Feld der politischen Transzendenz bewirtschaftete, sondern zunehmend auch jene wachsende Bewegung, deren Vertreter sich politisch – im Sinn und Geist des beschriebenen Entwicklungsromans – als liberal begriffen. Was sich hier vollzog, war allerdings keine Stärkung der bürgerlich-liberalen Bewegung, sondern eher ein ideologischer Schulterschluss unter dem Banner des Fortschritts. Es kam zu einer Fusion von (marxistisch oder postmarxistisch inspirierten) linken und (hegelianisch-utopisch geprägten) liberalen Denkansätzen. Dabei erfüllte der Begriff des Populismus zunehmend die Funktion eines Zauberworts, das ein Freund-Feind-Schema definiert. Die Warnung vor einem angeblich omnipräsenten Populismus wurde zur Integrationsideologie, über die sich linke und neumodisch-liberale Bewegungen – ex negativo – integrierten. Und gleichzeitig half sie mit, staatspolitisch wichtige Debatten (etwa zur Migrationsfrage, aber auch zur Gesundheits- und Umweltpolitik) im Keim zu ersticken beziehungsweise in die Sozialen Medien und an die politische Extremzone abzudrängen.

Daraus entwickelte sich ein progressistischer Liberalismus, der heute (auch in der Schweiz) bis weit in die vormals bürgerlichen Volksparteien hineinwirkt und dort die Strategie und Richtung teilweise bestimmt. Ihre Vertreter sprechen sich zwar für den freien Markt und für den Schutz des Privateigentums aus, doch gleichzeitig tragen sie in vielen Bereichen zum Ausbau des staatlichen Zentralismus bei. Diskursiv manifestiert sich diese Tendenz beispielsweise in der weit verbreiteten – und von manchen kantonalen Exekutivpolitikern noch geförderten – Rede vom «Flickenteppich» der Kantone oder vom Kantönligeist. Dahinter steht die Vorstellung, man kenne die richtigen Lösungen gewissermassen a priori; und dass es folglich bloss um deren rasche Umsetzung durch den Bundesstaat gehe. Bloss keine Experimente! Bloss nicht ausscheren. Wer so denkt, empfindet alternative Vorschläge, wenn er sie denn überhaupt ernst nimmt, als politisches Störfeuer.

Vor allem aber bilden die Vertreter dieses progressistischen Liberalismus heute, zusammen mit der dezidierten Linken, in den staatspolitisch zentralen Institutionen – in den Medien, den Universitäten, der Verwaltungen, aber auch in führenden Wirtschaftsverbänden und Thinktanks – eine wichtige, und oft die tonangebende, Fraktion. Genau darauf hat der bereits erwähnte Pierre Nora 1980 in einem brillanten Aufsatz hingewiesen. Nora war zu diesem Zeitpunkt wohl bereits das, was man einen bürgerlichen Aussenseiter nennen könnte. Zwar leitete er als Intellektueller mit jüdischen Wurzeln ein Pariser Forschungsinstitut, irgendwann sogar mit professoralen Weihen versehen. Trotzdem führte er zu keiner Zeit das Leben eines dienstfertigen Professors. Als leitender Mitarbeiter beim Pariser Verlag Éditions Gallimard, wo er mehrere erfolgreiche Serien lancierte, kam er früh mit dem ebenso komplizierten wie faszinierenden Beziehungsgeflecht von Kultur, Politik, Markt und Gesellschaft in Berührung. Dies mag erklären, warum er – als einer jener Grenzgänger, die an den Akademien schon immer selten waren – die Intellektuellen gleichermassen von innen und aussen beobachten konnte.23

Im besagten Aufsatz erklärt Nora die Geburt der Intellektuellen aus dem Niedergang der Klasse der Priester am Beginn der Moderne. Die Philosophes des 18. Jahrhundert, allen voran Voltaire, bekämpften die Macht der Kirche mithilfe einer säkularen Fortschrittsvision. Ende des 19. Jahrhundert wurde der Intellektuelle als Berufsbezeichnung in Frankreich geboren. Ein tiefgreifender Wandel im intellektuellen Selbstverständnis vollzog sich nach dem 2. Weltkrieg im Zuge der Expansion der Universitäten in der westlichen Welt. An die Stelle des freischwebenden Intellektuellen traten die Professoren insbesondere der Humanwissenschaften. Intellektuelle bezogen ihre Legitimation nun vermehrt aus ihrer Zugehörigkeit zu öffentlichen Universitäten und Forschungsinstituten. Sie waren Spezialisten, die sich – beflügelt durch das Prestige, das ihre Institution in der Öffentlichkeit genoss – vermehrt als Generalisten betätigten. Ihren Ruf als ein mit Weisheit gesegnetes Milieu, der ihnen vorausging, trugen sie schon bald ohne jede falsche Bescheidenheit. Seine Interpretation dieses tiefgreifenden Wandels bringt Nora im folgenden Zitat zum Ausdruck: «Früher hatten wir eine absolute Monarchie und eine République de Lettres, heute haben wir eine staatliche Republik und einen Despotisme des Lettres… Es besteht ein enger Konnex zwischen dem Status des Intellektuellen und der Fantasie absoluter Macht. Diese Verbindung gilt es zu zerstören.»24

Zu einem Befund, der demjenigen Noras zumindest nicht unähnlich ist, kam neulich der in St. Gallen lehrende Wissenschaftshistoriker Caspar Hirschi. 25 Obschon es in seiner Studie vor allem um Experten geht, sind seine Beobachtungen auch für das Thema der Intellektuellen bedeutsam. Hirschi kommt zum Schluss, dass der Aufstieg des staatlich alimentierten Experten die Kernaufgabe des traditionellen Intellektuellen geschwächt habe: jene des öffentlichen Kritikers nämlich, der sich der Gefahr milieuspezifischer Denkschablonen bewusst ist. Und er zeigt, wie in Popularitäts- und Legitimationskämpfe verwickelte Politiker dazu neigen, Experten für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Man denke etwa an die Energieversorgung der Schweiz. Wer sich vor ein paar Jahren anmasste, die Zahlen und Prognosen des zuständigen Departements als zu optimistisch zu kritisieren, dem wurde beschieden: «Wenn Sie sich mit der ETH anlegen wollen, ist das ihre Sache.» Ein einziger Bericht, der dem zuständigen Departement und seinen Spitzenbeamten genehm war, wurde mit Verweis auf das Prestige der ETH als im Grunde unanfechtbar erklärt. Und die Vertreter der vom Bund finanzierten Hochschule spielten mit.26

Das Überraschende an diesem Fall ist aber nicht das strategische Verhältnis der Politik zur Wissenschaft. Was befremdet, ist die ausbleibende Reaktion der wissenschaftlichen Community in der Schweiz. Eine intakte intellektuelle Kultur hätte hier eine öffentliche Debatte ausgelöst. Denn nicht nur Umweltwissenschafter und Physiker, sondern auch Ökonomen, Soziologen, Historiker oder Anthropologen hätten aufgrund ihres methodischen Rüstzeugs auf die Idee kommen können, dass es mehrere Gutachten braucht, bevor Entscheide von derartiger Tragweite gefällt werden können. Doch entweder waren Wissenschafter selbst zu sehr Partei, um in dieser Frage als kritische Öffentlichkeit zu agieren, oder sie zogen es vor, trotz abweichender Meinung kein Aufheben zu machen. Um es sich mit den universitären und politischen Autoritäten nicht zu verscherzen? Weil man sich als Teil eines sozialen Standes definiert, der sich über den Habitus vornehmer Zurückhaltung reproduziert? Weil man davon ausgeht, dass jene, die sich diesem Ritual verweigern, intern abgestraft werden? Was auch immer der Grund gewesen sein mag: In der Wissenschaft führt das Suggerieren von Eindeutigkeit früher oder später zu einem Legitimationsverlust. Sie «kann ihre Angriffsfläche» gemäss Hirschi «nur verkleinern, wenn es ihren Vertretern wieder gelingt, die Rolle des öffentlichen Kritikers anzunehmen und auszufüllen.» 27

Damit dies geschieht, müssten sich jedoch nicht bloss die Politiker hüten, die von ihnen bestellten Gutachten als unanfechtbar zu präsentieren. Auch die Wissenschafter verschiedener Disziplinen müssten sich wieder in jener Bescheidenheit üben, die einem an seriösen Universitäten bereits im Grundstudium vermittelt wird. Konkret müssten sie dazu übergehen, ihre Berechnungen, hermeneutischen Exegesen und Empfehlungen als das auszugeben, was sie im günstigen Fall sind: eine Grundlage für eine öffentliche Diskussion, nicht der Weisheit letzter Schluss; und schon gar keine pfannenfertigen Rezepte für Politiker auf dem Profilierungstrip. Das ist jedoch heute, wo manche Wissenschafter ihre Mitgliedschaft in staatlichen Gremien als Statusmerkmal empfinden, oft nicht der Fall.

Bis zu einem gewissen Grad reproduziert das von Politik und Medien bewirtschaftete Bild einer auf Konsens und absoluten Wahrheiten gegründeten Wissensgesellschaft auch jenen Mythos, den die heutigen Universitäten intern schon länger pflegen. Als zentrale Instrumente wirken hier die beiden heiligen Kühe der anonymisierten Peer Review und der mit enormem bürokratischem Aufwand betriebenen Grossprogramme der staatlichen Forschungsförderung. Mit diesen Instrumenten der Selbstreproduktion legitimieren die Hochschulen nicht nur ihre Anstellungspolitik, sondern auch ihre Respektabilität in Staat und Gesellschaft. Auf diese Verwandtschaft von Wissenschaft und Politik weist Hirschi im Schlusskapitel seiner Untersuchung ebenfalls hin: «Wissenschaft und Politik können Experten in den Medien zu einer Neoaristokratie der Wissensgesellschaft stilisieren, bis sich, wie in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten bereits geschehen, ein ebenso medial geschürter Volkszorn an ihnen abreagiert.»28

Als eigentliches Korsett, um dieses neoaristokratische Selbstverständnis zu stützen, dient zudem seit geraumer Zeit der Hinweis auf die globale Ausrichtung und geistige Offenheit der Hochschulen. Auch in der Schweiz bezeichnen Universitätsrektoren Internationalität und Weltoffenheit routinemässig als das hervorragende Markenzeichen ihrer Institution. Als Beweis dafür wird in der Regel auf die Rekrutierung von Mitarbeitern und die wissenschaftliche Kooperation verwiesen. Nun ist die viel beschworene Internationalität der Schweizer Universitäten statistisch zwar gut belegbar: Wer keinen Schweizer Pass besitzt, lässt sich aufs internationale Konto verbuchen. Ebenso wahr ist allerdings, dass die viel gepriesene Internationalität besonders in den Humanwissenschaften – in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sieht es ein wenig besser aus – fast ausschliesslich deutscher Muttersprache ist. Das ist beispielsweise an britischen Top- Universitäten ganz anders.

Interessanter als der Anspruch auf Internationalität ist aber ohnehin die Aussage der Rektoren, bei ihren Universitäten handle es sich um Horte der geistigen Offenheit und Neugier. Diese Aussage wird mancher langjährige Universitätslehrer, der sich ein Mass an geistiger Unabhängigkeit erhalten hat, als verwegen empfinden. Zumindest in meiner eigenen Erfahrung gibt es nur wenige Organisationen von vergleichbarer gesellschaftlicher Bedeutung, wo der kritische Aussenseiter – mithin jener Typus Mensch, der es nicht ungehörig findet, die institutionelle Einmütigkeit bei Bedarf zu stören – weniger willkommen ist als an den öffentlichen Universitäten. Wobei es falsch wäre, diese Tendenz als brandneu zu bezeichnen. Zumal auf dem europäischen Kontinent waren es im 19. und frühen 20. Jahrhundert oft nationalistische Professoren, die an den Universitäten tonangebend waren – etwa indem sie konfessionelle Minderheiten, die sie als unpatriotisch oder anderswie defizitär empfanden, ausgrenzten –, so sind es im 21. Jahrhundert die Kosmopoliten vom Dienst.29

Dies zeigte sich eindrücklich bei der Debatte um «Horizon Europe», das Mega-Forschungsprogramm der EU. Zunächst zu den Fakten: Trotz einem massiven Budget von fast 100 Milliarden Euro gelingt es nur sehr wenigen Bewerbern, einen der begehrten Grants des European Research Council zu ergattern. Wirtschaftssoziologen sprechen hier von positionalen Gütern. Ihr Anreiz besteht darin, dass der grösste Teil der potenziellen Nutzer von der Nutzung ausgeschlossen wird. Dass es sich bei den erfolgreichen Projekten nicht immer um die inhaltlich stärksten handelt, ist ein offenes Geheimnis. Auch will nicht jeder Forscher ein Jahr oder mehr in die Vorbereitung eines Antrags investieren, denn das wertvollste Gut für einen mit Forschung und Lehre betrauten Professor ist immer noch die Zeit. In Oxford waren es in meinem Fach jedenfalls oft die originellsten Köpfe, die dieser Art von Forschungsförderung konsequent aus dem Weg gingen.

In der Schweiz gab es zu «Horizon» von Wissenschafterseite überwiegend Lob zu vernehmen. Dass es mit etwas mehr Mut und Engagement auch möglich ist, Kritik an dieser Art von Verbundforschung zu üben, bewiesen schon früh im Ausland lehrende Professoren. So wies der belgische Soziolinguist Jan Blommaert bereits 2015 darauf hin, dass «Horizon » mit Politik sehr viel, mit Wissenschaft dagegen recht wenig zu tun hat. Die entscheidende Stelle seines Kommentars zum Thema lautet: «The paradox is clear: by going along with the stampede of competitive external funding acquisition, almost all universities across the EU will lose not just money, but extremely valuable research time for their staff.»30 Unter den Schweizer Gelehrten war es mit dem Nobelpreisträger Didier Queloz – seit 2013 Jacksonian Professor of Natural Philosophy in Cambridge (UK) und vor zwei Jahren als Part-Time Professor und Leiter eines Forschungszentrums an die ETH berufen – eine sehr berufene Stimme, die bei «Horizon» eine andere Meinung vertrat: «Wir müssen kreative Lösungen finden, damit gute Forscher zu uns kommen oder nicht abwandern. Aber als Wissenschafter mache ich meine Entscheidungen nicht davon abhängig, was in Brüssel entschieden wird. So funktioniert die Wissenschaft nicht. Uns geht es nicht so sehr ums Geld, uns geht es um Ideen und darum, in einem inspirierenden Umfeld arbeiten zu können.»31

Für manche Schweizer Uni-Rektoren gab es in dieser Frage allerdings kaum Raum zu kritischen Zwischentönen. Vor und nach dem Entscheid des Bundesrates zum institutionellen Abkommen mit der EU priesen sie «Horizon» als «Goldstandard in der Wissenschaft», als die «Champions League», wo die Messi und Ronaldo des Wissenschaftsbetriebs in einem Ausscheidungsverfahren um den Weltmeistertitel spielen. Der Ausschluss von «Horizon» sei etwa so, wie wenn Roger Federer nur noch im heimischen Gstaad antreten könnte. Und im Gespräch mit der NZZ war es dann die klassische Musik, die herhalten musste: Die Situation sei «vergleichbar mit einem Orchester, dem Stück für Stück Musizierende entfernt werden.» 32 Ohne Horizon, darin war man sich von Rektorenseite einig, werde die Attraktivität des Schweizer Forschungsstandorts erodieren.

Doch man sollte das Problem nicht bei den Führungsstäben der Schweizer Universitäten lokalisieren. Modernes Universitätsmanagement ist immer auch Öffentlichkeitspolitik, das liegt in der Natur der Sache. Die zentrale Frage lautet vielmehr: Wieso kam von den tausenden von Wissenschaftern, die an Schweizer Universitäten auf verschiedenen Stufen Forschung und Lehre betreiben, kaum Widerspruch? Das weitgehende Ausbleiben kritischer Perspektiven machte es den Universitätsleitern und den ihnen zugewandten Politikern leicht, den Eindruck zu erwecken, ihre Sichtweise sei die einzig vernünftige. Im Englischen spricht man hier von «groupthink», was laut «Encyclopaedia Britannica» bedeutet: «Eine Art des Denkens, in dem einzelne Mitglieder kleiner, kohäsiver Gruppen dazu neigen, jenen Standpunkt zu akzeptieren, der dem perzipierten Gruppenkonsens entspricht. Und zwar unabhängig davon, ob die Betreffenden ihn als sinnvoll, korrekt oder weiterführend erachten. ‹Groupthink› reduziert bei den davon betroffenen Gruppen nachweislich die Problemlösungseffizienz.»

Zumindest die fest angestellten Professoren hätten aufmucken können. Damit hätten sie zwar ihren Chefs, den Dekanen und Rektoren, und wohl auch manchen ihrer Kollegen keine Freude bereitet. Um ihre Stellung hätten sie sich deshalb aber nicht sorgen müssen. Weshalb also all das Schweigen? Auch wenn diese Frage nicht leicht zu beantworten ist, habe ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen aus England sowie von Gesprächen mit Schweizer Berufskollegen doch ein paar Vermutungen. Drei Faktoren scheinen mir eine Rolle zu spielen. Erstens gibt es Wissenschafter, die mit Horizon sehr gut gefahren sind, weil sie entweder tatsächlich sehr gute Forschung betreiben, sich ausgezeichnet in thematische Vorgaben einzugliedern wissen, oder weil sie schlicht und einfach Glück hatten. Zweitens ist der Typus des vorzüglich qualifizierten Konformisten in meiner Erfahrung für die Universität von heute prädestiniert: Wer Horizon als Prestigeobjekt oder als wichtiges Element der Schweizer Europapolitik taxiert, passt besser in die universitäre Kultur als jemand, der in diesen Fragen Ansichten vertritt, die den meisten Professoren ikonoklastisch vorkommen. Und drittens fördert das Klima an unseren Universitäten die Selbstzensur. Manche üben sie, weil sie sich vor Angriffen schützen wollen, oder weil sie die öffentliche Debatte zu forschungspolitischen Fragen als etwas betrachten, was dem Beruf des Wissenschafters unwürdig ist.

Dieser letzte Faktor wiegt meiner Meinung nach besonders schwer, weil es für Selbstzensur an Universitäten an sich keinen Platz geben dürfte. In unserem Privatleben mögen wir uns aus nachvollziehbaren Gründen eine Form der Zensur auferlegen: zum Beispiel, weil wir nicht verletzend sein wollen, oder weil wir uns davon einen persönlichen Vorteil erhoffen. Doch das ist die private Ebene. Eine Demokratie jedoch lebt von der Bereitschaft der Menschen, öffentlich Kritik zu üben, wobei die Universitäten, sollen sie nicht zu weltanschaulich berechenbaren Biotopen verkommen, hier eine Vorbildfunktion einnehmen. Damit hapert es heute jedoch oft. Das wurde mir klar, als ich für einen Zeitungsbeitrag mit Professoren aus verschiedenen Schweizer und britischen Fakultäten sprach. Alle fanden, Forschungsprogramme wie Horizon seien für die Wissenschaft alles andere als ein Segen. Warum? Weil sie sich aufgrund des grossen Verwaltungsaufwandes als Zeitdiebe erweisen. Weil sie Freiräume einschränken und Hierarchien zementieren. Weil sie fragwürdige Anreize schaffen. Weil sie viel an Talent und Ressourcen verschwenden. So lauteten einige der gemachten Vorbehalte.33

Doch alle meine Gesprächspartner bestanden darauf, nicht namentlich erwähnt zu werden. Sie hatten Ansichten geäussert, die sie öffentlich nicht vertreten würden, zumindest nicht vor ihrer Emeritierung. Wobei «Horizon» diesbezüglich kein Einzelfall ist, sondern die Spitze des Eisberges. Das Resultat ist ein Opportunismus, der die Bereitschaft, gesellschaftliche Probleme offen zu diskutieren, vermindert. Oder wie es die Encyclopaedia Britannica wunderbar technisch formuliert: weil «groupthink» die Problemlösungseffizienz einer Gesellschaft nachweislich reduziert.

23 Aufschlussreich dazu: Pierre Nora, Jeunesse (Editions Gallimard, 2021).
24 Nora, «Que peuvent les intellectuels», p. 6.
25 Hirschi, Skandalexperten, Expertenskandale.
26 Samuel Tanner und Marc Tribelhorn, «Die Schweiz in der Energiekrise: Wie gross ist die Schuld von Doris Leuthard?», Neue Zürcher Zeitung, 27.08.2022.
27 Hirschi, «Skandalexperten und Expertenskandale», p. 327.
28 Ibid., p. 323. Siehe auch die Kritik von Bruno S. Frey und Margit Osterloh, «How to avoid borrowed plumes in academia?», Research Policy, 49 (2020), pp. 1 – 9.
29 Diese Grundtendenz scheint mir gesamthaft bedeutsamer als die Exzesse der selbsternannten Denkpolizei, die vor allem an englischsprachigen Universitäten, besonders in den USA, immer noch auf dem Vormarsch ist.
30 Jan Blommaert, «Rationalizing the unreasonable: there is no good research in the EU». https://alternative-democracy-research.org/2015/06/10/rationalizing-theunreasonable- there-are-no-good-academics-in-the-eu/. Aus der Schweizer Wissenschaft sind mir vor allem zwei kritische Stimmen bekannt: Caspar Hirschi, «Was uns das Rennen zum Südpol über den aktuellen Streit zum EU-Forschungsprogramm Horizon lehrt», NZZ am Sonntag, 19.02.2022; Tobias Straumann, «Die Rede von der Erosion der bilateralen Beziehungen mit der EU lenkt vom eigentlichen Problem ab», NZZaS, 29.01.2022. Siehe auch Oliver Zimmer, «Horizon Europe: Ein Segen für die Wissenschaft?», Neue Zürcher Zeitung, 25.02.2022.
31 NZZ, 02.09.2022.
32 NZZ, 28.02.2022.
33 Auch Blommaert nennt all diese Faktoren in seiner Diagnose: Blommaert, «Rationalizing the unreasonable».

Fazit

Die Legitimität von Intellektuellen beruht auf der konsequenten Distanzierung: nicht von den Menschen, ihren Nöten, Interessen und Vorlieben, sondern von der Macht, wo immer sie sich konzentriert. Zu diesen Mächten gehören auch dominante Weltanschauungen. Intellektuelle sollten sich deshalb nicht nur von nationalistischen Mythen distanzieren, sondern auch von deren progressistischen Verwandten, den universalistischen Fortschrittsutopien. Wahrscheinlich war es einst nötig, dass Intellektuelle einen Pfad einschlugen, der sie von der bürgerlichen Lebenswelt weg und in den Bereich der weit in die Zukunft ausgreifenden Spekulationen führte. Die eine Versuchung, der man damit oft erlag, ist aus den Sozialwissenschaften bekannt: Plötzlich verwechseln selbst hoch intelligente Menschen die beobachtbare Wirklichkeit mit einem abstrakten Idealtyp, dem der Status eines Sein-Sollens zugeschrieben wird.

So war das mit der Utopie, die Hayek und Buchanan einforderten, selbstverständlich nicht gemeint. Die beiden grossen politischen Ökonomen hätten die progressistischen Liberalen kaum als Segen für die Menschheit empfunden. Von Buchanan wissen wir, dass er im Abdriften liberaler Milieus ins hegelianische Fahrwasser eine Entkernung klassisch liberaler Grundsätze sah. Was beide mit einem linken Soziologen wie Bourdieu teilen, ist trotz allem eine Schwäche für Utopien. Bei Bourdieu lag das daran, dass er linksreformatorische Bewegungen als Stachel im Fleisch einer auf Statuserhalt getrimmten Bourgeoisie empfand; und dass er davon ausging, dass ein «gewisses Verlangen nach Transzendenz» dabei als Antriebsmotor wirkte.34 Bei Hayek war es eher die Sehnsucht nach einem Ordnungsschema zum nachhaltigen Schutz der kapitalistischen Ordnung, die den Ausschlag gab.35 Und bei Buchanan war es die Orientierung am puritanischen Bild der «shining city on the hill», dieser für ihn unverzichtbaren Inspirationsquelle eines starken Liberalismus. Ohne diese Offenheit hin zur Transzendenz fehlte dem Liberalismus, davon war er überzeugt, die lebensschöpfende Kraft.

Das Problem scheint mir zu sein, dass Utopien dank ihrer transzendenten Ladung unweigerlich nach Entgrenzung rufen. Damit entfachen sie Institutionen sprengende Kräfte, die sich nur schwer korrigieren lassen. Buchanan beschrieb die neumodischen Liberalen als Abweichler vom klassischen Liberalismus. Er sah sie – staatsgläubig und bereit, dem liberal-demokratischen Rechtsstaat eine postmoderne Rosskur zu verordnen – als Konvertiten zu einem hegelianischen Kollektivismus. Plötzlich seien aus liberalen Intellektuellen hegelianische Gläubige geworden.

Ich halte Buchanans Diagnose für ebenso originell wie unvollständig. Und ausserdem – was den Liberalismus betrifft – für ungenügend selbstkritisch. Vor allem scheint sie mir auf einer Unterschätzung des absoluten Wahrheitsanspruchs zu beruhen, den politische Utopien in der Praxis entfalten – und zwar ganz gleich, ob diese unter ein linkes oder ein liberales Banner gestellt werden. In unserer auf Entkernung des klassischen Verfassungsstaats getrimmten Zeit sollten sich liberale Intellektuelle wieder vermehrt als Kritiker der Macht begreifen. Der genuine Intellektuelle von heute, sofern er nicht links oder «im Zweifel für den Fortschritt » steht, ist der bürgerliche Non-Konformist: der nach allen Seiten hin skeptisch Gestimmte. Seine Aufgabe ist es, mit Neugier auf die Orte zu blicken, mit denen ihn sein Bürger- Dasein verbindet. Eine solche Haltung ist kein Ausdruck eines engstirnigen Provinzialismus. Eher steht sie für einen Universalismus der anspruchsvolleren Art. Der Vorwurf, die so Disponierten würden nichts Konstruktives zum Weltenlauf beitragen, beruht auf einem Missverständnis, dessen Ausräumung man periodisch versuchen sollte.

34 Bourdieu, «The Role of the Intellectual», p. 3.
35 Siehe Quinn Slobodian, Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism (Harvard UP, 2018).


Gerhard Schwarz

2 Ist der Liberalismus zu nüchtern?

Eine Handvoll Gedanken zu Friedrich August von Hayek, George Stigler und James Buchanan*

* Überarbeitete und ergänzte Fassung eines unter dem Titel «Friedrich August von Hayeks frühe Einsicht in die Attraktivität des Sozialismus für viele Intellektuelle» im Schweizer Monat, Nr. 1085, April 2021, S. 37 erschienenen Textes.

Im Jahr 1949 erschien in der Frühlingsausgabe der «University of Chicago Law Review» unter dem Titel «The Intellectuals and Socialism» ein Aufsatz von Friedrich August von Hayek über den Hang der Intellektuellen zum Sozialismus. Der Text fand schnell grosse Beachtung und erschien bereits in den Schweizer Monatsheften am Jahreswechsel 1949/1950 auf Deutsch. Noch steckte den Menschen der Zweite Weltkrieg in den Knochen, Ludwig Erhards grosses Befreiungswerk, die deutsche Wirtschafts- und Währungsreform, lag kein Jahr zurück, der Kalte Krieg hatte längst begonnen und Hayeks in über 30 Sprachen übersetzter Bestseller «The Road to Serfdom» war noch keine fünf Jahre alt.

Hayek hat den grossen Einfluss der Intellektuellen früh erkannt. Und die Liberalen in die Pflicht genommen.

In dieser Zeit, als der National-Sozialismus besiegt worden war und der International-Sozialismus sich in ganz Osteuropa ausbreitete, fragt sich Hayek, warum Intellektuelle so sehr zu sozialistischen Anschauungen neigen. Er unterstellt den Intellektuellen weder böse Absichten noch egoistische Ziele, sondern ehrliche Überzeugung und idealistisches Bestreben. Für ihn unterliegen sie, wie er oft betont, einem fatalen Irrtum über entscheidende Fragen des Zusammenwirkens in Wirtschaft und Gesellschaft. Im Titel seines Alterswerks von 1988 «The Fatal Conceit. The Errors of Socialism» bringt er diese Sichtweise erneut zum Ausdruck. Er glaubt an die Aufklärung, an die Kraft seiner Argumente und ist daher gegenüber jenen Vertretern des Status quo, die die links angehauchten Intellektuellen als neurotische Ruhestörer ansehen, fast kritischer als gegenüber den linken Intellektuellen selbst.

Mit «Intellektuellen» meint Hayek nicht die wirklich originellen Denker, die Gelehrten und Experten. Für ihn sind die Intellektuellen «professional second-hand dealers in ideas», also «Gebrauchtwarenhändler» in Ideen, oder, etwas weniger abschätzig und weniger bildhaft alle, die sich als berufsmässige Ideenvermittler betätigen, gewandt reden und schreiben können und ein Gespür für neue Ideen haben. Er nennt Lehrer, Journalisten, Schriftsteller, Schauspieler, Künstler, freie Berufe, auch viele Wissenschafter und Ärzte, die «ausserhalb ihres eigentlichen Fachgebietes … mit Respekt angehört werden». Dass diese Intellektuellen die einzige wirkliche internationale Gemeinschaft darstellen, würde Hayek heute wohl nicht mehr so sehen. Er schrieb seine Analyse noch vor der Globalisierung, die beispielsweise vor allem die Manager zu einer weltweit vernetzten Kaste gemacht hat.

Hingegen gibt es am Urteil, dass die Intellektuellen mächtiger sind, als das gemeinhin gesehen wird, nichts zu revidieren. Sie prägen über die veröffentlichte Meinung die öffentliche Meinung und die Politik. George Stigler, wie Hayek Nobelpreisträger der Ökonomie, nahm das Thema 14 Jahre später in seinem Essay «The Intellectual and the Marketplace» wieder auf, und es ist heute nicht minder aktuell.

Gemäss Hayek wählen Menschen, die lebhaft, intelligent und originell sind sowie der Gesellschaftsordnung eher feindlich gegenüberstehen, besonders gerne intellektuelle Berufe. Das ist die eine Erklärung für den Linksdrall der Intellektuellen. Die andere liegt in der Anziehungskraft des Sozialismus aufgrund von dessen spekulativem Charakter, da Intellektuelle in der Einschätzung Hayeks Sachfragen fast nur anhand weniger Grundbegriffe und allgemeiner Ideen beurteilen. Da sie Generalisten seien oder sich ausserhalb ihrer Kernkompetenz äusserten, sei es ihnen wichtig, dass sich neue Ideen leicht in das Weltbild integrieren liessen, das ihnen modern und fortschrittlich erscheine. Die Beispiele Hayeks für intellektuelle Moden sind weniger zeitgebunden, als man vermuten würde. Er nennt die Überzeugung, dass die weitgehende Demokratisierung aller möglichen Institutionen von Vorteil sei, das nicht auf Erfahrung, sondern nur auf Theorie basierende Verlangen nach materieller Gleichheit und den Glauben, man könne die menschliche Gesellschaft ähnlich beherrschen und gestalten wie die Naturkräfte.

Für mich sind zwei Gedanken Hayeks in «Die Intellektuellen und der Sozialismus» bis heute wichtig und gültig. Es ist zum einen die Beobachtung, dass die Freiheit, wenn sie einmal errungen ist, schnell als selbstverständlich hingenommen und nicht mehr geschätzt wird. Der jahrzehntelange Niedergang freiheitlicher Werte in Europa und in den USA dürfte sich zum Teil damit erklären lassen. Und zum anderen ist es die Einschätzung, dass die geringe Attraktivität des Liberalismus für die Intellektuellen damit zu tun hat, dass dieser als «praktisch », «vernünftig» und «realistisch» gilt. Das trifft zwar auf das Zerrbild, das die linken Intellektuellen vom Neoliberalismus zeichnen, den sie als herz- und zügellosen, völlig radikalen Turbokapitalismus darstellen, nicht zu. Es trifft aber auf jene liberalen Kräfte zu, die in Regierungen und Parlamenten auf die Gesetze der Ökonomie hinweisen und mit ihren nüchternen Mahnungen zur Disziplin den Machbarkeitsrausch aller Etatisten etwas bremsen. «Was uns heute mangelt», schreibt Hayek, «ist eine liberale Utopie.» Er meint damit einen radikalen Liberalismus, der einen grossen Teil der bestehenden Institutionen bewahrt und doch den Status quo nicht einfach verteidigt, der nicht in einem verwässerten Semisozialismus endet, der auf die Empfindlichkeiten der mächtigen Interessengruppen nicht gross Rücksicht nimmt und der sich vor allem nicht auf Dinge beschränkt, die heute als politisch möglich erscheinen, sondern Mut zur Utopie entwickelt. Die vielen liberalen Think Tanks, die von den 1960er Jahren an auf der ganzen Welt entstanden sind, sind zum Teil Ausdruck und Folge dieser Idee.

Persönlich glaube ich aber, dass die Intellektuellen, so paradox dies klingen mag, auch deswegen Mühe mit dem Liberalismus haben, weil er mit seiner Fokussierung auf die Regeln und Prozesse statt auf die Ergebnisse irgendwie blutleer wirkt und keine Emotionen bedient. Ein anderer grosser liberaler Denker, auch er Nobelpreisträger, James Buchanan, hat dies ebenfalls thematisiert und propagiert, der Liberalismus müsse stärker seine Seele, «The Soul of Classical Liberalism», so der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 2000, ins Zentrum rücken. Er nimmt zustimmend die von Ronald Reagan vielfach verwendete puritanische Metapher der “shining city on a hill“ auf, um deutlich zu machen, dass der Liberalismus nicht nur ein Entwurf für kühle Köpfe sein sollte und könnte, sondern auch ein Angebot für warme Herzen.


René Scheu | Gerhard Schwarz

3 Das Streben nach dem Paradies ist verheerend.

Ein lockerer Austausch über Anmassung, Moralismus und Ressentiments der Intellektuellen*

* Leicht redigierte Fassung eines in der NZZ am Sonntag, 31. Juli 2022, S. 26 erschienenen Textes.

René Scheu und Gerhard Schwarz nehmen ihre eigene Zunft aufs Korn. Warum neigen Intellektuelle zu moralischem Dünkel und politischen Utopien? Und hat der Typus überhaupt eine Zukunft?

René Scheu: Lieber Geri, kurz und knackig: Ein Intellektueller – was ist das für ein Typ Mensch?

Gerhard Schwarz: Kurz und knackig geht’s nicht. Es gibt mindestens drei unterschiedliche Auffassungen über Intellektuelle.

RS: Oha. Welche?

GS: Die erste, nüchterne Beschreibung lautet: Der Intellektuelle arbeitet geistig, ist gebildet, weiss viel, denkt viel nach, ringt um Antworten und bringt sich unparteiisch in die öffentliche Debatte ein. Er ist stark in seinem Fach, aber kein Fachidiot. Man findet solche Leute in Kunst und Literatur, in den Wissenschaften, im Journalismus, in den Kirchen. In Unternehmen und der Politik sind sie selten. Ihr Horizont ist breit. Und Zweifel sind ihnen nicht fremd.

RS: Ich hake gleich ein. Gib es zu: Das ist auch eine Selbstbeschreibung.

GS: Vielleicht. Aber möchte ich überhaupt ein Intellektueller sein? Es ist ja nicht nur ein Ehrentitel.

RS: Sondern?

GS: Gemäss einer zweiten Sicht handelt es sich bei Intellektuellen um Schreibtischtäter, Theoretiker, oft lebensfremd, meist besserwisserisch. Sie äussern sich zu vielen Themen, auch solchen, von denen sie wenig verstehen. Zudem meinen sie zu wissen, was man machen müsste, könnten es aber kaum selbst umsetzen. Gerade eben haben deutsche Intellektuelle mit offenen Briefen für einen Waffenstillstand in der Ukraine und gegen Waffenlieferungen zu diesem Bild beigetragen.

RS: Halt. Ich teile zwar deren Haltung nicht. Aber ich finde es absolut in Ordnung, dass sie sich mit einem Brief einschalten – wir haben zu wenig, nicht zu viel freien Meinungsaustausch.

GS: Klar. Aber wenn sich Intellektuelle mit dem Gewicht ihrer Berühmtheit ohne Selbstzweifel zu Dingen äussern, die in ihrer Komplexität selbst für Fachleute schwer durchschaubar sind, finde ich das anmassend, wenn nicht sogar missbräuchlich. Erfolgreiche Schriftsteller oder Nobelpreisträger der Medizin verstehen von Wachstums- oder Geldpolitik, von Rüstungsfragen oder Verkehr selten mehr als der sprichwörtliche Mann von der Strasse.

RS: Aber sie können schreiben – und das sollen sie auch tun. Deine Position erinnert mich an Nassim Taleb, Bestseller-Autor und Unternehmer. Seiner Meinung nach sind Intellektuelle akademisch gebildete Leute ohne besondere Expertise und ohne «Skin in the Game», die vor allem auf Anerkennung ihres Milieus schielen.

GS: Da hat er einen Punkt – allerdings trifft seine Kritik auch ihn selbst. Er ist ja auch ein Intellektueller.

RS: Aber wer sich äussert, kann immer irren. Und es kann nicht sein, dass sich am Ende nurmehr sogenannte Experten äussern – eine solche intellektuelle Expertokratie wäre ein Graus.

GS: Das habe ich weder gesagt noch gemeint. Ich meine nur: Man darf sich nicht nur an Bauchgefühle halten, man braucht schon Sachverstand. Das bringt mich zur dritten Sichtweise auf die Intellektuellen. Ganze Heerscharen setzen mittlerweile akademische Ausbildung und linke Gesinnung mit Intellektualität gleich und fühlen sich moralisch wie geistig den Massen überlegen. Meist leben sie – stolz, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht auf dem «schmutzigen» Markt verdienen müssen – von staatlicher Anstellung oder Förderung, also den Steuern der Reichen, die sie verachten. Und wenn sie mit Aussagen falsch liegen, tut ihnen das nicht weh, sondern sie gewinnen sogar zusätzliche Aufmerksamkeit.

RS: Ja, die Moralisten. Allerdings waren Deine grossartigen liberalen Samstagspredigten in der NZZ auch nicht frei von Moralin. Auch Du bist also auf deine Art ein Überzeugungstäter, ein intellectuel engagé!

GS: Ich habe in einer liberalen Zeitung aus liberaler Sicht argumentiert und versucht, das Ringen um diese Sichtweise oder die Gründe für sie darzulegen. Viele tatsächliche oder Möchtegern-Intellektuelle tun dagegen so, als sei ihr Urteil reiner Ausdruck des Wissens, unbefleckt von jeder politischen Haltung. Das finde ich feige – wenn man zu den Linksempörten gehört, sollte man auch den Mut haben, dies transparent zu machen.

RS: Ökonomie-Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek nannte die Intellektuellen «second hand dealers in ideas». Sie popularisierten die Gedanken anderer, überschätzten ihren Verstand und seien für Utopien aller Art, vor allem den Sozialismus, anfällig. Liegt da ein Grund für den Linksdrall vieler Journalisten?

GS: Bestimmt. Viele Intellektuelle haben einen Hang zur Utopie. Die bietet die sozialistische Vision vom Menschen, wie er sein sollte, mehr als das realistische Menschenbild des Liberalismus. Ausserdem kommt die Einfachheit des etatistischen Denkens den Intellektuellen entgegen. Sie sind oft Generalisten oder äussern sich ausserhalb ihrer Kernkompetenz – da tun sie sich mit den vermeintlich einfachen staatlichen Lösungen leichter als mit der komplexen, unberechenbaren Marktwirtschaft.

RS: Der Liberale Ludwig von Mises hat in «Die Wurzeln des Antikapitalismus» noch einen draufgegeben: Intellektuelle fühlten sich Geschäftsleuten in Sachen Bildung, Intelligenz und Moral überlegen, verdienten jedoch tendenziell weniger. Dies führe zu Ressentiments und zu einer Verachtung von Profitdenken und Marktwirtschaft. Zu simpel – oder brutal zutreffend?

GS: Einfach ja, aber das heisst ja nicht zwingend «falsch». Ressentiments spielen für den Linksdrall vieler Intellektueller sicher eine Rolle. Sie tragen gerne den selbstlosen Idealismus zur Schau – und meinen zugleich, sie müssten in einer gerechten Welt viel besser entlöhnt werden.

RS: Utopisten messen den realen bestehenden Zustand der Welt an einem eingebildeten Idealzustand. Ist dies der grösste Denkfehler der publizierenden Zunft?

GS: Vorsicht mit Superlativen. Es ist aber ohne Zweifel ein Denkfehler, der an vorderster Stelle zu den Ursachen für die Marktwirtschaftsphobie vieler Intellektueller gehört, gegen alle empirische Evidenz. Denn die Evidenz ist klar: Real existierende Marktwirtschaften sind friedlicher als Autokratien, kennen ein reicheres kulturelles Leben, versichern die Arbeitnehmer besser, tun mehr für die Armen und wirtschaften sauberer. Pragmatisches Streben nach dem Besseren ist menschlich. Das Streben nach einem Paradies auf Erden ist aber verheerend. Nicht von ungefähr sind die positiven Utopien eines Thomas Morus oder eines Plato totalitäre Staaten.

RS: Anderseits – wer keine freiere und gerechtere Gesellschaft sich vorzustellen wagt, kann die bestehende Gesellschaft auch nicht verbessern.

GS: Ja. Entscheidend ist jedoch: Man sollte nie so sehr von einer Vision überzeugt sein, dass man bereit ist, dafür Zwang oder Gewalt anzuwenden. Liberale vertrauen auf die Evolution, die spontane Ordnung – und die Kraft des besseren Arguments.

RS: Zum Schluss eine provokative These: Ich glaube, dass die Intellektuellen vom Aussterben bedroht sind. Weisst Du, warum?

GS: Nein.

RS: Der Intellektuelle gehört zur alten, elitär-gehobenen Öffentlichkeit. Er wird abgelöst von zwei Figuren der fragmentierten, breiten Öffentlichkeit: dem Aktivisten und dem Influencer. Erstere stellen ihr Ego in den Dienst des Weltrettungs-Idealismus, Letztere arbeiten am Bild des eigenen Ego, um modische Memes unters Volk zu bringen. Wie hältst Du’s mit ihnen?

GS: Aktivisten gab es schon immer, Rebellen, Gewerkschaftsführer. Dagegen habe ich nichts, sofern sie sich der Vernunft nicht verschliessen. Für Influencer in diesem expliziten, engeren Sinne bin ich jedoch nicht empfänglich. Meist haben sie ja ohnehin eine kurze Halbwertszeit. Aber natürlich werden wir alle in unserem Konsum- und Freizeitverhalten gelegentlich von Prominenten beeinflusst.

RS: Ich fürchte, wir sind zwei Intellektuelle der alten Art. Sollten wir’s vielleicht doch mal als Influencer versuchen?

GS: Du gerne, Du könntest das auch. Ich bin dafür schon zu alt.


Tito Tettamanti

4 Diskursdiktatur des linken Progressismus

Die schleichende soziale Revolution

Das 20. Jahrhundert war für Europa ein tragisches. Nicht umsonst hat Eric Hobsbawm, der grosse Historiker und überzeugte Marxist, seinem Buch den Titel «The Age of Extremes » gegeben. Dieses Jahrhundert wurde von zwei Kriegen heimgesucht, die zu Weltkriegen wurden, grausam für die Kämpfer und verheerend für die Bevölkerungen, Kriege, die 80 Millionen Menschenleben gefordert und Nationen zerstört haben. Und das Jahrhundert hat leider auch drei elende Ideologien gekannt, die zu verschiedenen Diktaturen mit barbarischen Folgen (einschliesslich einem der Kriege) und der Schande von Rassenvernichtungslagern geführt haben.

Von den drei Ideologien – der marxistischen, die im leninistischen Kommunismus ihre praktische Umsetzung fand, der nationalsozialistischen und der faschistischen – hat erstere bei weitem den grössten Einfluss gehabt. Dafür gibt es drei Erklärungen. Erstens stützt sie sich auf ein theoretisches Konstrukt, das aus dem Werk eines der grössten Denker des 19. Jahrhunderts, Karl Marx, abgeleitet wurde, während die beiden anderen teilweise improvisiert und in vieler Hinsicht unausgereift waren. Zweitens hatte sie eine längere «Anwendungsdauer», nämlich zumindest von der Russischen Revolution 1917 bis zur Implosion der UdSSR im Jahr 1991, und etablierte sich weltweit, wenn auch mit Anpassungen in der Wirtschaftsordnung (siehe China), um nicht, wie die UdSSR, zu implodieren. Drittens hat sie immer noch überzeugte Anhänger und Unterstützer. Jemanden als Nazi oder als Faschist zu bezeichnen, ist heute eine Beleidigung, wobei das Epitheton Faschist meist absichtlich falsch verwendet wird, um die Argumente des Gegners schlechtzumachen. Nicht so bei den Kommunisten. Da heisst es etwa: «Stalin wollte sicherlich nur Gutes, hat sich aber leider geirrt». Dazu kommt, dass auf einer utopischen Ebene Gleichheit sowie der Schutz von Arbeitnehmern und Minderheiten vor Ausbeutung Themen sind, die begeistern und rein ideell schwer in Frage zu stellen sind. Eine auf ausführlichen Überlegungen basierende Theorie mit solchen Idealen kann für die intellektuelle Welt attraktiv sein, weil sie alles, was davon abweicht, zum Feindbild erklärt und weil die utopische Motivation die Realität mit ihren Hindernissen vergessen lässt.

Die Diskriminierten als revolutionäre Klasse

Allerdings wurde die Fragilität der ökonomischen Thesen von Marx von Wissenschaftern unterschiedlichster Ausrichtung wie Eugen Böhm von Bawerk, Joseph Schumpeter, John Maynard Keynes oder Paul Samuelson aufgezeigt. Karl Popper sprach sogar von Aberglauben. Und der Vergleich zwischen den beiden Systemen Marktwirtschaft und Planwirtschaft sowie ihren jeweiligen Ergebnissen ist schonungslos: auf der einen Seite die kritisierte Ungleichheit im Wohlstand, auf der anderen die Gleichheit im Elend, auf der einen Seite die Freiheit, wenn auch mit Ungleichgewichten, auf der anderen die Angst, sich die Zurechtweisungen und Gefängnisse des Regimes einzuhandeln. Die Erfolge der Marktwirtschaft spiegelten sich – wenn auch auf unterschiedliche Weise – in der Welt der Arbeit. Die Arbeiterschaft erkannte, dass es ihr in der kapitalistischen Welt besser ging als in den kommunistischen Paradiesen. Nicht umsonst wurde den Arbeitern vorgeworfen, sie hätten sich verbürgerlicht und seien in ihrer Mehrheit nicht bereit, die Klassenrevolution durchzuführen.

Einige marxistische Intellektuelle verstanden, dass der diktatorische Autoritarismus der Kommunisten, die Sakralisierung der Partei, die nicht irren konnte, die Verflachung der Gesellschaft in das Grau der Armut nicht mehr zu verteidigen waren. Der kommunistische Autoritarismus musste also aufgegeben und es musste nach anderen Wegen gesucht werden, die Grundlagen des demokratischen Systems zu untergraben. Dieses gilt marxistischen Intellektuellen als Basis der liberalen, marktwirtschaftlichen Gesellschaft in ihren diversen Varianten. Es mussten andere Formen eines alternativen, manchmal nicht als links deklarierten Autoritarismus gefunden werden, andere vermeintliche Übel, für die die bürgerliche Gesellschaft verantwortlich gemacht werden konnte, und andere Massen, die den Kampf übernehmen sollten, da die Arbeiter nicht mehr bereit waren, für die Klassenrevolution zu kämpfen.

Einer der subtilsten Köpfe in dieser Hinsicht ist sicher Herbert Marcuse; sein wohl repräsentativstes Werk ist «Der eindimensionale Mensch» (1964). Während er die Produktionsverhältnisse in Russland und den sowjetischen Autoritarismus kritisiert, erhebt er gleichzeitig schwere Vorwürfe gegen die kapitalistische Gesellschaft. Sie ist nach seiner Meinung der Ursprung der Entfremdung der Individuen. Diese werden zu Konsumautomaten reduziert, die nur noch aus dem Angebot wählen können, aber in einer Welt der Ungleichheit leben und dem Konsumzwang unterliegen. In diesem Sinne wäre die demokratische Gesellschaft also auch totalitär, da sie angeblich die Möglichkeit der Alternative ausschliesst. Marcuse und die Frankfurter Schule mit Max Horkheimer und Theodor Adorno waren Inspiratoren der Achtundsechziger- Bewegung, insbesondere des französischen Mai 68, aber auch der studentischen Revolten in Deutschland oder den USA. Daneben zeichnete sich das Jahr 1968 noch durch weitere Ereignisse mit einer gewissen Ähnlichkeit aus: In China die «Roten Garden» von Mao, in Mexico City die Erschiessung junger Demonstranten durch die Polizei, in der Tschechoslowakei die Revolte gegen die kommunistische Obrigkeit mit der darauffolgenden russischen Invasion, vielleicht einer der ersten Schritte des Niedergangs der UDSSR, im Nahen Osten die Rebellion der jungen Araber, die enttäuscht waren über den Verlust im «Sechstagekrieg».

Überall Diskriminierung

Ein Slogan dieser Zeit, «l’imagination au pouvoir», wurde von Marcuse geprägt. Die Fackel des Antiautoritarismus, des Kampfes gegen die Ordnung unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die bürgerlich-liberale Macht, wurde in den 1970er Jahren von den französischen Philosophen Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Lacan aufgegriffen und weiter verbreitet, die Freiheit mit einem Freibrief zu allem und jedem verwechselten. In den 1980er Jahren wurde vom Politikphilosophen-Ehepaar Chantal Mouffe und Ernesto Laclau eine neue Vision des Kampfes gegen die liberale Ordnung formuliert. Mit mehr politischer Sensibilität als die anderen genannten Philosophen wollen sie die von Marx beschriebene gesellschaftliche Revolution verwirklichen, stützen sich aber, wenn man so will, auf andere Strategien und Truppen. In ihrem Werk «Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus» halten sie die Möglichkeit einer Revolution der Arbeiter – die gemäss ihnen längst verbürgerlicht sind – für eine Illusion.

Sie streben eine Revolution an, aber die Revolutionäre, die es zu mobilisieren und zu vertreten gilt, sind nicht mehr die Arbeiter, sondern die tatsächlich oder vermeintlich Diskriminierten, die Immigranten, die Afrikaner, die prekär Beschäftigten, die Frauen, die LGBT-Community, die Klimaschützer, die Pazifisten und alle, die die westliche Zivilisation in Frage stellen. Die liberale Gesellschaft soll von innen ausgehöhlt und dekonstruiert, also aufgelöst werden, und zwar durch die Erlangung der ideologischen Herrschaft über die politische und sozialwissenschaftliche Debatte, den Diskurs. Das Ziel ist Macht, Macht durch Diskurshoheit, und der herbeizuführende «Aufstand» der Diskriminierten ist das Mittel zum Zweck. Der Weg zu diesem «Aufstand» führt über mehrere Etappen: Zunächst wird ein Zustand angestrebt, in dem sich möglichst viele diskriminiert fühlen. Intellektuelle helfen, dieses Gefühl eines vermeintlich ungerechten Zustandes in vielen Bereichen unserer Gesellschaft zu schaffen. Wer Ungerechtigkeit anprangert, hat diskurstheoretisch, also in der politischen Debatte, praktisch immer die besseren Karten.

Vernachlässigte Macht der Ideen

Wenn wir heute, 35 Jahre später, sehen, wie sich «Wokeness» überall durchsetzt, können wir nicht anders, als von der Weitsicht des unterdessen verstorbenen Laclau und seiner Frau Mouffe beeindruckt zu sein. Letztere ist inzwischen zu einer Ikone der postmarxistischen Linken geworden. Die derzeitige Vorherrschaft des links-progressistischen Diskurses und seines Einflusses auf die Gesellschaft, auch dank der (zum Teil sogar unbewussten) Hilfe der Medien, ist unbestreitbar. Und weil Parteien Abbilder von Gesellschaften sind, beeinflusst und prägt das links-progressistische Denken sehr direkt – obschon oft weitgehend unbemerkt – auch die politischen Parteien.

Die links-progressistische Hegemonie im politischen Diskurs ist leider auch eine Folge der kulturellen und intellektuellen Schwäche jener Schichten, die die liberale Ordnung und die Werte unserer Zivilisation verteidigen sollten. Beschäftigt mit der täglichen bürokratischen Verwaltung der Gesellschaft und ihrer Institutionen und engagiert in vielen unternehmerischen Aufgaben haben sie die Macht der Ideen übersehen. Auf die drängenden Fragen, die die Entwicklung der Gesellschaft stellt, haben sie daher kaum Antworten. Noch schlimmer sind jene, die versuchen, ihre Machtstellung in der Gesellschaft dadurch zu sichern, dass sie sich als Progressisten tarnen. Plus ça change, plus c’est la même chose. Zu dieser Gilde gehören die Davos-Pilger, die heuchlerisch vor Greta knien, ebenso wie die Prediger der Stakeholder-Rechte, die die Worte von Milton Friedman ignorieren, um hoch bezahlten Managern eine Ausrede anzubieten, wenn die wirtschaftlichen Resultate ihrer Unternehmen unbefriedigend sind. Das rechte Spektrum der Gesellschaft, die Liberalen und die Konservativen, ist somit nicht nur schwach wegen der Vernachlässigung der Ideen, sondern auch wegen Heuchelei.

Wenn wir das politische Parkett in der Schweiz betrachten, ist es bedenklich, wie sehr sich Medien, Politologen, Parteipräsidenten und Parlamentarier vor allem mit Wahlprognosen, Bundesratskandidaten, Sitzen im Bundesrat und internen Streitigkeiten beschäftigen – und das kaum inhaltlich, sondern rein rechnerisch. Man spricht von Konkordanz und vergisst, dass sich die Parteien parallel zu den Gesellschaften geändert haben und dass das Folgen hat für die Möglichkeiten und Notwendigkeiten parteipolitischer Konstellationen im Rahmen der Konkordanz.

Die Parteien im Sog des progressistischen Mainstream

So ist es nicht ohne Folgen, dass in der SP heute die progressistischen, revolutionären Linken an den Schalthebeln der Macht sitzen und mit ihrer Betonung der allgegenwärtigen Diskriminierung die Diskurshoheit errungen haben. Die SP ist nicht mehr die Partei, die wir während Jahrzehnten als demokratische, reformistische Kraft kannten, die sich an der Macht einer im Grundsatz akzeptierten Gesellschaft beteiligen möchte, um sinnvolle und nützliche sozialpolitische Reformen zu erreichen. Die SP-Führungsriege und auch die Basis sind heute mehrheitlich radikal eingestellt. Ganz besonders trifft das auf die junge Garde zu. Sämtliche Juso- Präsidenten und -Präsidentinnen, selbstredend auch das heutige Co-Präsidium der SP, sind klar links-progressistisch orientiert und haben sich seit der Studienzeit als zukünftige Berufspolitiker gesehen. Sie sind ohne wirkliche Kenntnis der realen Arbeitswelt in die Politik eingestiegen, sie beteiligen sich gern an Debatten über politische Themen, aber ihre Meinung ist mehr von der Ideologie beeinflusst als von der Kenntnis der echten Welt. Die Tschudis, Ritschards, Strahms sind heute eine winzige Minderheit. In der Schweiz und noch mehr in Italien und Frankreich existieren die Sozialdemokratischen Parteien, mit denen man die Demokratisierung Europas nach den Kriegen gemeinsam aufgebaut hat, höchstens noch bruchstückhaft. Wir müssen uns bewusst sein: Die Theorien von Laclau und Mouffe zielen nicht auf Beteiligung an der Macht, sondern auf die totale Macht. Konkordanz, wie sie der multikulturellen und demokratischen Schweiz entspricht, ist mit dem links-progressistischen Denken nicht vereinbar. Dieses zielt darauf, die heutige Gesellschaft zu revolutionieren – und damit auch die Strukturen der Macht im Staat.

Kommen wir zur FDP. Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Radikalen kannte man hier schon immer. Aber die heutigen tiefen Risse in dieser einst stolzen, «staatstragenden » Partei haben mit den früheren Kämpfen nichts gemein. Unter dem Präsidium von Franz Steinegger (1989 – 2001) wurde die Partei von den 68er-Ideen beeinflusst. Sie ist nach links gerutscht in der Hoffnung, modern zu sein und keine Wähler an die Sozialisten zu verlieren. Heute können wir feststellen, dass es ein Irrtum war. Die Resultate der letzten Abstimmungen, etwa über das CO2-Gesetz, der peinliche innerparteiliche Streit in Sachen EU, die Haltungen zur Globalisierung und noch einiges mehr zeigen, dass ein Teil der Führung wie auch der Basis zur urbanen «Mainstream-Haltung» tendiert, ja zu Haltungen neigt, die stark unter dem Einfluss der progressistischen Linken stehen. Der Partei, die als erste die Werte der liberalen, bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen hätte, fehlte es an eigenen originellen Lösungen für die Herausforderungen der Gegenwart. Sie war intellektuell zu sehr abwesend, da zu sehr mit den Taktiken der Macht beschäftigt. Es scheint, dass man unter dem neuen Präsidenten Thierry Burkart im Begriff ist, zu einer Linie zurückzukehren, die ihrer historischen Rolle besser entspricht.

Dass die Katholisch-Konservativen (K. K.) das erste «K» aufgegeben haben, ist begreiflich. Die Distanzierung vom zweiten K, weil man sich schämte, als konservativ betrachtet zu werden, war dagegen ein grosser politischer Fehler. Man hat damit einen Teil der eigenen Wähler an die SVP verschenkt. Nun ist die berechtigte Sorge der ehemaligen CVP (heute Die Mitte) das Überleben, also das Erzielen von genügend Stimmen, um einen Sitz im Bundesrat zu rechtfertigen. Da ist es nur verständlich, dass sich ihr Präsident, einer der besten Köpfe unseres Parlamentes, heute in seinen Positionsbezügen ausgeprägt taktisch benimmt – immer mit Blick auf das Hauptziel: Primum vivere, deinde philosophari. Nicht zu übersehen sind die Risse mit den Linkskatholiken, die in verschiedenen Ländern mit der postkommunistischen Linken paktieren. Die konservative Seele und ihre Werte scheinen heute in Europa in neuen, manchmal konfusen Bewegungen eine Wiederbelebung zu erfahren. Es ist aber fraglich, ob diese Gefühle im demokratischen und nationalen Rahmen eine Rolle spielen werden.

Die SVP hat mit grossem Geschick die konservative und nationalistische Einstellung der volkstümlichen, traditionellen Schweiz gesammelt, auch dank der erwähnten Fehler der ehemaligen Katholisch-Konservativen, und die Verteidigung gegen den Linksprogressismus übernommen. In einigen Themen wie Europa und Immigration, wo sie mit Entschlossenheit einen grossen Teil der öffentlichen Meinung vertritt, hat sie sogar die Diskurshoheit zurückerobert. Als grösste Partei der Schweiz sieht sie sich heute mit der Verpflichtung konfrontiert, sich nicht nur auf einzelne Themen zu konzentrieren und vor allem die intellektuelle Kapazität zu entwickeln, um mit Kraft als Katalysator der bürgerlichen Werte und Gedanken zu wirken.

Grüne und Grünliberale sind Erscheinungen der jüngeren Zeit. Beide Parteien haben sich parallel zur links-progressistischen Kulturdebatte entwickelt und stehen dieser intellektuell nahe. Das ist kein Zufall: die gesamte Umweltbewegung und an ihrer Spitze Greta Thunberg betrachten sich als «Diskriminierte» und als von den traditionellen Strukturen «Bedrohte» und wirken antiautoritär. Damit sind sie eine wichtige, wenn auch nicht immer bewusste Hilfe für den gezielten Umsturz und den Kampf gegen die heutige Gesellschaft. Sehr explizit sind dagegen Bücher wie «Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus» des marxistischen japanischen Philosophen Kohei Saito.

Rückeroberung der Diskurshoheit

Dieses zum Teil beunruhigende politische Bild ist wesentlich – und mehr, als dies den meisten bewusst ist – geprägt von der linken Diskurshoheit, ja Diskursdiktatur in vielen gesellschaftlichen Themen. In der liberalen Demokratie hat jeder das Recht, für seine Ideen zu kämpfen, aber das setzt die Möglichkeit voraus, zu debattieren. Erlaubt es die Diskursdiktatur der «Diskriminierten» aber überhaupt noch, zu debattieren? Leider nein. Es ist oft unmöglich, andere Ideen zu vertreten. Sie werden bereits vorher blockiert, indem man sie als der Debatte und der Konfrontation nicht einmal würdig erachtet. Die «andere Meinung» ausserhalb der «Debattokratur» gilt als nicht salonfähig, darf im Kampf der Ideen nicht vertreten sein. Letztlich kann es so keinen Kampf der Ideen mehr geben. Es ist eine Form des Totalitarismus – und das Ende des Geistes der Aufklärung.

Erschreckend ist die Haltung vieler sogenannt Intellektueller an den Universitäten. In den USA (aber auch in Europa) wird Professoren verboten, ihre Meinung zu äussern, weil sie nicht mit dem heutigen Progressismus im Einklang sind. Oder weil sie Zweifel am links-progressistischen Mainstream anbringen möchten. Oder weil sie die wahren Motive der progressistischen Linken erkannt haben und genau diese thematisieren möchten. Die Fälle sind unzählig und bekannt. Das Gleiche passiert in den Medien. Hier sind wir so weit, dass Journalisten die Stelle gekündigt wird, wenn sie eine andere, kritische Meinung vertreten (New York Times). Ein Konservativer ist nichts anderes mehr als ein getarnter «Faschist», dem die Würde für einen Gedankenaustausch nicht gewährt werden darf. Gleichzeitig hat der Moralismus überall die Oberhand gewonnen. Analysen und Urteile werden durch Voreingenommenheit ersetzt.

Wie sollen die «Bürgerlichen» (gibt es sie noch?) und ihre Parteien reagieren? Streiten sich die wenigen Wirtschaftsliberalen und aufrechten Ordnungspolitiker lieber noch weitere Jahrzehnte, anstatt zu erkennen, wo der wahre «Feind» sitzt? Werden die bürgerlichen Parteien fähig sein, ihre zu gar nichts führenden Streitigkeiten beiseitezulegen und gemeinsame Front gegen den linken Progressismus zu bilden? Gegen einen Progressismus, der die gleichen etatistischen Ziele wie die früheren Kommunisten verfolgt, einfach mit längerem Atem und milderen Methoden? Der angetreten ist, um sowohl Gesellschafts- wie Machtverhältnisse zu revolutionieren?

Wir alle sind überzeugt, dass alle Gesellschaften sich hin zum Besseren entwickeln sollen. Genau dies haben Kapitalismus und soziale Marktwirtschaft in den liberaldemokratischen Gesellschaften vollbracht. Es ist ein erstaunlicher Erfolg, der dazu geführt hat, dass praktisch die gesamte Gesellschaft am erarbeiteten Wohlstand teilhaben kann. In demokratischen Systemen bestimmt die Mehrheit sogar darüber, wie der erarbeitete Wohlstand verteilt wird. Wenn wir glauben, dass unser verbesserbares System sich weiterhin positiv entwickeln wird wie in den letzten Jahrhunderten, müssen wir jetzt opponieren gegen Theorien und Bewegungen, die durch andere, manchmal getarnte postmarxistische Wege unsere Gesellschaft grundlegend umkrempeln wollen. Das postmarxistische Denken, das ihnen zugrunde liegt, sollte demaskiert und bekämpft werden, um so die Hoheit über den Diskurs zurückzuerlangen.

Letztlich werden die meisten, die sich diskriminiert fühlen, von jenen Marxisten und Postmarxisten instrumentalisiert, die in den Fussstapfen von Mouffe und Laclau die Dekonstruktion der offenen liberalen Gesellschaft betreiben. So tragen sie, ohne dass sie es merken, zur Ausbreitung von deren Ideen bei.

Wir befinden uns in einer Zeit der Krisen und Umwälzungen. Einerseits haben wir einen erstaunlichen technologischen Fortschritt zu meistern. Die heutigen Herausforderungen heissen: extreme Langlebigkeit (wenn man einigen Biogenetikern glaubt); Eroberung des Universums, um neue Plätze für die Nachfolger des Homo Sapiens zu schaffen; Nutzung der künstlichen Intelligenz als grosse Hilfe (und nicht als Beherrscher). Anderseits wissen wir nichts Besseres zu tun, als die Sprache ändern, einen neuen Rassismus einführen, das Sex-Verhalten revolutionieren, die genetischen Unterschiede verneinen, die Kultur abschaffen, die Geschichte ändern. Man schämt sich für Dante, Shakespeare, Christoph Kolumbus. Während der Einfluss des jüdisch-christlichen Monotheismus zurückgeht, ist eine Rückkehr zu Formen des Pantheismus oder Heidentums zu beobachten. Extreme Haltungen in der Ökologie, der Wertschätzung der Natur, im Tierschutz erinnern konzeptionell an heidnische Rituale.

Die Lösungswege, die sich angesichts einer solch schwierigen Zukunft anbieten, beruhen auf zwei unvereinbaren Paradigmen. Eines wird gewinnen müssen, denn das Zusammenleben wird sonst immer streitsüchtiger und unerträglicher. Wird sich das Paradigma durchsetzen, das auf Freiheit in der Ordnung und damit auf einem evolutiven Fortschritt beruht und das die Geschichte nicht geringschätzt? Oder wird das Paradigma eines linken Progressismus obsiegen, der eine totale Revolution der Sitten und auf diesem Wege eine Aushöhlung der liberalen Gesellschaft anstrebt? Die Fragen stellen, heisst, sich der Verantwortung bewusst werden.


Die Autoren

René Scheu *1974, Dr. phil., Universitäten Zürich und Triest; Publizist und Philosoph; war Leiter der NZZ-Feuilletonredaktion; Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.

Gerhard Schwarz *1951, Dr. oec., Universität St. Gallen, Harvard Business School; Publizist und Ökonom; war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und Direktor von Avenir Suisse; Inhaber Schwarz auf Weiss; Präsident der Progress Foundation.

Tito Tettamanti *1930, Dr. iur., war Anwalt, Politiker, Gründer der Treuhandgesellschaft Fidinam und später international tätig als Unternehmer in der Finanz- und Immobilienbranche.

Oliver Zimmer *1963, Ph.D., London School of Economics, Universität Zürich; Historiker; war Professor of Modern European History, University of Oxford; Research Director, Center for Research in Economics, Management and the Arts, Zürich.