Skip to content

Alles nur ein Mythos? Warum die USA gar nicht so ungleich sind

Allgemein herrscht die Meinung vor, die Ungleichheit in den USA sei besonders hoch und werde immer grösser. Doch stimmt das wirklich? Eine Studie von drei prominenten Autoren sät berechtigte Zweifel. Sie zeigt, dass in den offiziellen Statistiken einerseits wesentliche Transfereinkommen und anderseits die Reduktion der verfügbaren Einkommen durch Steuern nicht berücksichtigt werden.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 28.11.2023

Der amerikanische Traum vom Aufstieg ist nach wie vor umsetzbar.
Mark Peterson / Redux / Laif

Kritik an wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit prägt die sich spaltende Gesellschaft der USA; auch in Europa ist sie populär. Das Ende vergangenen Jahres erschienene Buch «The Myth of American Inequality» hält dagegen. Drei Autoren vertreten darin die steile These, die Kritik beruhe auf falschen Daten.

Der Ökonom Phil Gramm war 23 Jahre Kongressabgeordneter und Senator in Washington, erst für die Demokraten, dann für die Republikaner. Der im August 2023 verstorbene Robert Ekelund lehrte Ökonomie an der Texas A&M University und der Auburn University. Und der mathematische Ökonom John Early begann als Assistent des demokratischen Präsidentschaftskandidaten George McGovern und hat im Bureau of Labor Statistics an der Berechnung des Konsumentenpreisindexes gearbeitet.

Nicht Absicht, sondern Formalismus

Das zentrale Argument lautet, die in den politischen Debatten dominierenden Einkommensstatistiken des Census Bureau, einer dem Department of Commerce unterstellten Statistikbehörde, berücksichtigten zwei Drittel der staatlichen Transferzahlungen nicht. Dahinter steckt nicht unbedingt böse Absicht, sondern ein nicht sachgerechter Formalismus.

Da etwa bei den Sozialprogrammen Medicare und Medicaid der Staat direkt die Rechnungen bezahlt, fliesst kein Geld zum Sozialhilfeempfänger. Doch wenn ein Dritter für Ausgaben aufkommt, entspricht dies einem Einkommen. Umgekehrt lässt das Census Bureau die Steuerzahlungen unberücksichtigt. Die Verzerrung ist also doppelt.

Ungleichheit sogar verringert

Unter Einbezug aller Sozialhilfen und Steuerzahlungen erhält man ein anderes Bild der Sekundärverteilung. Das Durchschnittseinkommen des untersten Fünftels der Einkommenspyramide liegt dann 2017 bei 50 000 Dollar, jenes des obersten Fünftels bei 200 000 Dollar, das ergibt ein Verhältnis von 1 zu 4; in den Publikationen des Census Bureau beträgt es dagegen 1 zu 16,7. Die Ungleichheit hat sich seit 1947 leicht (um 3 Prozent) verringert und nicht, wie «offiziell», um 22,9 Prozent erhöht.

Zudem scheint der amerikanische Traum vom Aufstieg, der relevanter ist als der statische Einkommensvergleich, intakt. Über 90 Prozent jener, die in Familien mit niedrigen Einkommen geboren wurden, hatten in den 2000er Jahren absolut ein höheres Realeinkommen als ihre Eltern Ende der 1960er Jahre. Und zwei Drittel schafften sogar den Aufstieg in eine höhere Einkommensschicht, stellten sich also auch relativ besser.

Wo es Nachholbedarf gibt

Dennoch steht nicht alles zum Besten. Vorteilhafter wäre es, die Verteilung wäre schon vor Transfers und Steuern gleichmässiger. Sie ist es aus Sicht der Autoren deshalb nicht, weil der Wohlfahrtsstaat die Menschen geradezu vom Arbeitsmarkt fernhält und weil die öffentlichen Primar- und Sekundarschulen versagen.

Weniger Fehlanreize in der Sozialpolitik und grundsätzliche Reformen der Bildungspolitik wären der Symptomkur der über hundert Transferprogramme auf Bundesebene bei weitem vorzuziehen. Diese führen zwar zur Angleichung der verfügbaren Einkommen, schöpfen aber das Potenzial der Menschen zu wenig aus und lassen somit zu wenig Mittel für wirklich Bedürftige übrig.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *