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Zehn Gebote des gesunden Menschenverstands

Die «legendären» Worte Abraham Lincolns über die Starken und die Schwachen sowie die Gefahren der Verschuldung hat dieser nie gesprochen. Sie wurden erst lange nach seiner Ermordung von einem deutschstämmigen Prediger verfasst. Aber sie haben in ihrer lebenspraktischen Dimension unverändert ihre Gültigkeit bewahrt.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 27.12.2023

Den Schwachen ist nicht geholfen, wenn die Starken geschwächt werden.

Da im Zentrum meiner Kolumne heute ein Text steht, der nicht von mir stammt, werden einige sagen: Der macht es sich einfach. Eventuell werden sie jedoch wegen der Festtage Nachsicht üben. Aber die Unterstellung wäre bösartig. Es geht in dieser Kolumne seit je um Ordnungspolitik.

Einen Rahmen setzen – nicht intervenieren

Gelegentlich begegne ich dem Missverständnis, das sei ein Synonym für Law and Order, für eine rigorose Durchsetzung der inneren Sicherheit. Tatsächlich umreisst der Begriff «Ordnungspolitik» etwas ganz anderes, nämlich ein Staatsverständnis, das dem Staat eine sehr zurückhaltende Rolle zuweist. Er sollte in Wirtschaft und Gesellschaft nur einen allgemeinen, für alle gültigen Rahmen setzen und nicht punktuell oder zugunsten von einzelnen Gruppen intervenieren.

Das Konzept ist von Ökonomen und Juristen geprägt worden und wirkt wegen der akademischen Wurzeln oft etwas blutleer. Das kann man vom folgenden Text nicht sagen. Er ist zwar kein ordnungspolitisches Pamphlet im eigentlichen Sinn, spricht aber vielen Ordnungspolitikern aus dem Herzen, angesichts der gegenwärtigen Angriffe auf die Schuldenbremse erst recht.

Falsch zugeschrieben

Lange Zeit wurde der Text Abraham Lincoln, dem 1865 (im Alter von 56 Jahren) ermordeten 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, zugeschrieben. Er stammt jedoch von einem presbyterianischen Religionsführer, dem 1873 in Hamburg geborenen William John Henry Boetcker. Seine zehn Gebote («The Ten Cannots») wurden 1916 aufgelegt und 1942 fälschlicherweise Lincoln in den Mund gelegt. Es gibt mehrere Überlieferungen und Übersetzungen. Meine Variante lautet:

  1. Ihr könnt keinen Wohlstand erlangen, wenn ihr nicht zur Sparsamkeit mahnt.
  2. Ihr könnt die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt.
  3. Ihr könnt dem kleinen Mann nicht helfen, indem ihr die Grossen zerstört.
  4. Ihr könnt denen, die einen Lohn beziehen, nicht helfen, wenn ihr die ruiniert, die ihn bezahlen.
  5. Ihr könnt den Armen nicht helfen, indem ihr die Reichen ausmerzt.
  6. Ihr könnt keine solide Sicherheit schaffen, wenn ihr euch verschuldet.
  7. Ihr könnt keine Brüderlichkeit schaffen, wenn ihr Klassenhass schürt.
  8. Ihr könnt eure Schwierigkeiten nicht dadurch lösen, dass ihr mehr ausgebt, als ihr einnehmt.
  9. Ihr könnt kein Engagement für die öffentlichen Angelegenheiten und keine Begeisterung wecken, wenn ihr den Einzelnen seiner Initiative und seiner Unabhängigkeit beraubt.
  10. Ihr könnt den Menschen nicht dauerhaft helfen, wenn ihr für sie tut, was sie selbst für sich tun könnten und tun sollten.

Natürlich hört man hier den Prediger, tönt einiges ältlich, ist vieles vereinfacht, wird manches mehrfach gesagt. So lagen die Warnung vor der Verschuldung und das Betonen, dass die Wirtschaft kein Nullsummenspiel ist, Boetcker ebenso wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die diese «Gebote» zustimmend zitierten, besonders am Herzen. Aber insgesamt bringen sie eine sehr frische liberal-konservative Werthaltung zum Ausdruck, die man schlicht und einfach als gesunden Menschenverstand bezeichnen könnte – damals wie heute.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

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