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Auch wenn der Eindruck täuscht: Die Welt wird gleicher

In Studien und Artikeln ist viel von der wachsenden Ungleichheit der Einkommen die Rede. Doch ein gutes Leben hängt daneben von vielem anderen ab. Versteht man den Lebensstandard etwas breiter, stellt man fest, dass es heute weniger Ungleichheit gibt als vor dreissig Jahren – und das auf einem insgesamt höheren Niveau.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 22.08.2023

Das Wachstum in Schwellenländern (Bild: Philippinen) war oft mit einer erhöhten Umweltverschmutzung verbunden.

Das Thema Ungleichheit bewegt. Gemäss Google ist die Verwendung des Begriffs in englischsprachigen Druckerzeugnissen seit den 1950er Jahren anteilmässig um fast 500 Prozent gestiegen. Studien wie jene von Thomas Piketty tragen zur Verbreitung der Vorstellung bei, die Welt sei ungleicher geworden, was fälschlicherweise mit ungerechter gleichgesetzt wird.

Mit ihrer Analyse «Global Inequality in Well-Being Has Decreased across Many Dimensions» halten Chelsea Follett vom Cato Institute in Washington und Vincent Geloso von der dortigen George Mason University dagegen. Sie zeigen, dass die starke Verbesserung der Lebensbedingungen für Milliarden Menschen in den letzten Jahrzehnten mit einer Reduktion der Ungleichheit einherging.

Nicht nur Monetäres fliesst ein

Der Befund hat zum einen mit der globalen Perspektive der Studie zu tun. Sie untersucht nicht die Ungleichheit innerhalb der 142 erfassten Länder, sondern die Ungleichheit im Weltmassstab. Zum anderen – und das ist der wesentliche Grund – versteht die Studie Ungleichheit nicht bloss monetär, sondern verwendet ein breites Konzept des Wohlbefindens. Das Einkommen ist nur ein Teil davon, wenn auch ein wichtiger.

Der aufs Erste verstörende Hinweis des Entwicklungsökonomen Peter Bauer (1915 – 2002), der Tod eines Kindes erhöhe das Pro-Kopf-Einkommen eines Haushalts, zeigt, dass Einkommen und Wohlbefinden weder identisch sind noch korrelieren. In westlichen Gesellschaften beobachten Forscher sogar eine abnehmende Ungleichheit der Lebenszufriedenheit und des Glücks bei zunehmender Einkommensungleichheit.

Follett und Geloso beziehen daher neben dem Einkommen Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, ausreichende Ernährung, Luftverschmutzung, Schulbildung, Zugang zu Information (gemessen am Internet-Zugang) und politische Freiheit in ihren Index mit ein.

Unterschiede bei Umwelt und Kindersterblichkeit

Bei sechs dieser acht Indikatoren nahm die Ungleichheit ab. Selbst die Einkommensungleichheit lag gemäss einer Messung 2018 etwas tiefer als 1990. Nur bei Kindersterblichkeit und Luftverschmutzung nahm die Ungleichheit zu. Für Letzteres gibt es eine plausible Erklärung. In der Regel steigt in armen Ländern, wenn die Wirtschaft wächst, auch die Umweltbelastung; erst wenn ein gewisser Wohlstand erreicht ist, geht sie wieder zurück.

Daher geht es den Menschen in Indien, China, Brasilien oder Nigeria, um nur wenige zu nennen, in Sachen Luftverschmutzung heute wohl schlechter als vor zwanzig Jahren, so dass die Ungleichheit gegenüber reichen Ländern zugenommen hat. Bei der Kindersterblichkeit ist es anders. Sie ist überall zurückgegangen, nur in armen Ländern weniger schnell als in reichen.

Gesamthaft ist die Ungleichheit des Wohlbefindens bzw. der Wohlfahrt gemessen am Gini-Koeffizienten zwischen 1990 und 2018 um einen Drittel zurückgegangen. Klammerte man den Internet-Zugang aus, beliefe sich der Rückgang zwar nur auf 16 Prozent, aber mit einem anderen Mass der Ungleichheit kommt die Studie sogar auf eine Verringerung der Ungleichheit um 59 Prozent. Wie man es also dreht, zeigt sich immer, dass, wenn nicht die Einkommen, so doch die Lebensverhältnisse insgesamt heute weniger auseinanderklaffen als vor dreissig Jahren.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/auch-wenn-der-eindruck-taeuscht-die-welt-wird-gleicher-ld.1752484

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