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Ist die Linke noch links?

Die Positionen linker Parteien haben sich stark gewandelt. Viele ursprüngliche Anliegen und Werte wurden aufgegeben. Das Liebäugeln mit der Gewalt aber ist geblieben.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 13.06.2023

Vergangene Zeiten: Arbeiter wie hier an der 1.-Mai-Kundgebung 1973 wählen nicht mehr automatisch links – und tragen auch keine Krawatten mehr.

Unlängst fiel mir eine Broschüre des Autorengespanns Dirk Maxeiner und Michael Miersch aus dem Jahre 2005 in die Hände. Sie fragen: «Ist die Linke noch links?» Die Frage bleibt aktuell. Zwar ist der Begriff «links» schwammig, aber an der Veränderung von fünf Merkmalen wird deutlich, wie sehr sich die Parteien des linken Spektrums von dem entfernt haben, was sie einst ausmachte.

Erstens vertrat die Linke früher die grösste Bevölkerungsgruppe, die Arbeiter, und später auch die Angestellten. An ihre Stelle sind nun zum Teil Minoritäten getreten, die weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Wenn sich solche Minoritäten diskriminiert fühlen und es vielleicht, aber keineswegs immer auch sind, bekommt die Linke Schnappatmung.

Besitzstandwahrung im Arbeits- und Wohnungsmarkt

Zweitens verteidigt die Linke im Gegensatz zu früher heute in vielen Bereichen die Insider, die Bessergestellten, gegen die Outsider. Das ist Besitzstandwahrung. Beispiele sind der Arbeitsmarkt und der Wohnungsmarkt. Mindestlöhne nützen denen, die Arbeit haben, und schaden jenen, die Arbeit suchen.

Auf dem Wohnungsmarkt profitieren Insider vom fast völligen Einfrieren der Bestandesmieten und von marktfernen Genossenschaftskonditionen, während sich Neuzuzüger und junge Wohnungssuchende die Nase platt drücken und sich auf dem durch die linke Wohnungspolitik eingeengten freien Markt mit horrenden Mieten konfrontiert sehen.

Gratisstudium für Managersöhne

Drittens führt der Hang der Linken, alles Mögliche mit der Giesskanne zu finanzieren, weg von der Raison d’être der Linken, dem Einsatz für die unteren Schichten. Stattdessen werden mit den Steuern der Büezer und des unteren Mittelstandes das Gratisstudium der Managersöhne und -töchter, die Krankenkassenprämienverbilligung für Kinder aus reichem Haus und ein Kulturangebot finanziert, das von mehrheitlich gutgestellten Lehrern, Staatsangestellten und Studenten konsumiert wird. Das ist Umverteilung von unten in die Mitte und nach oben.

Viertens kämpfte die Linke früher für ein besseres Leben ihrer Klientel. Heute setzt sie sich für ein anderes, vermeintlich moralisch besseres Leben ein. Der von der Linken früher oft verteufelte, angeblich in die Abhängigkeit führende Paternalismus der Unternehmer wird ersetzt durch einen linken Paternalismus.

Solidarität mit Weltuntergangspropheten

Schliesslich war die Linke ursprünglich fortschrittsgläubig. Ihr Ziel war das Paradies auf Erden. Heute solidarisiert sie sich mit Weltuntergangspropheten, beschwört den Verzicht und begleitet technische Neuerungen mit angstvollem Stirnrunzeln. Der Ruf nach radikaler Umkehr erinnert an jene religiösen Bussprediger, die in ihren Augen das «Opium für das Volk» verbreitet haben.

Eines hat sich jedoch wenig geändert: das Liebäugeln mit Gewalt. Die Überzeugung, absolut auf der richtigen Seite zu stehen und für Anliegen von so unglaublicher Wichtigkeit einzutreten, etwa die Rechte der Geknechteten oder die Rettung der Welt, dass fast jedes Mittel recht ist, bleibt unter Linken weit verbreitet. Daher finden jene, die den Verkehr blockieren, Privateigentum mutwillig zerstören oder Polizisten angreifen, bei Linken viel Nachsicht. Da ist sich die Linke leider treu geblieben.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

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