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Die direkte Demokratie passt zum Liberalismus

Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung sind Demokratien nicht per se liberal. Wo es zwingend kollektive Entscheide braucht, entspricht die direkte Demokratie dem liberalen Konzept mehr als die repräsentative Demokratie.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 24.07.2023

Weil Freiheit unteilbar ist, braucht es für eine liberale Gesellschaft politische Partizipation.

Viele Wirtschaftsführer leiden an der Demokratie, zumal an der direkten Demokratie. Sie leiden nicht nur an Regulierungen und Steuern, sondern fast noch mehr daran, dass es für kleinste Veränderungen unglaublichen Aufwand braucht, dass Emotionen und sachfremde Überlegungen dominieren, dass Kuhhändel die Norm sind, dass Initiativen und Referenden vieles verzögern, kurz: Sie leiden am Mangel an Führung. Sie hadern desto mehr mit der Politik, je basisdemokratischer sie gestaltet ist.

So geniessen denn Entwicklungsdiktaturen wie Singapur viel Sympathie: Manager bekommen glänzende Augen, wenn in solchen Ländern liberale Reformen erfolgen. Unternehmer sind in ihren Betrieben grosse Machtfülle gewohnt und haben mit hierarchischen Strukturen oft Erfolg. Sie fragen sich, warum es in der Politik anders sein sollte. Daher engagieren sie sich selten in der Politik, und wenn doch, halten sie es kaum lange aus. Ausnahmen wie Christoph Blocher bestätigen die Regel.

Mutwillige Fehlinterpretationen

Demokratie und Liberalismus decken sich weniger, als oft behauptet wird, sie widersprechen sich zum Teil sogar. Gemäss dem Sozialphilosophen Friedrich August von Hayek sieht der Liberalismus «die Hauptaufgabe in der Beschränkung der Zwangsgewalt jeder Regierung, sei sie demokratisch oder nicht; der dogmatische Demokrat dagegen kennt nur eine Beschränkung der Staatsgewalt, und das ist die Meinung der jeweiligen Majorität». Eine Demokratie könne, so Hayek, totalitäre Gewalt ausüben, während umgekehrt eine autoritäre Regierung nach liberalen Grundsätzen handeln könne. Hayek kommt daher zu dem Schluss, er sei kein Demokrat, wenn Demokratie Herrschaft des unbeschränkten Willens der Mehrheit bedeute.

Die Formulierung ist nicht falsch, aber sie lädt zu – oft mutwilligen – Fehlinterpretationen ein. Es heisst dann, man sehe daran, wie demokratiefeindlich und autoritätsfreundlich die Liberalen seien. Das sind Liberale nicht, erst recht nicht, wenn es um die direkte Demokratie geht. Von allen Arten der Demokratie passt sie am besten zum Liberalismus.

Zwar lag dem grossen Befreiungsschlag durch die Bundesverfassung von 1848 die repräsentative und nicht die direkte Demokratie zugrunde. Die direkte Demokratie wäre gemäss dem Historiker Joseph Jung in seinem Opus magnum «Das Laboratorium des Fortschritts» das falsche Rezept gewesen und hätte die Erfolgsgeschichte des jungen Bundesstaats verunmöglicht. Bei der repräsentativen Demokratie kommt es jedoch viel mehr auf das politische Personal an als bei der direkten Demokratie. Wäre der repräsentativ-demokratische Bundesstaat nicht von wirtschaftsliberalen Persönlichkeiten wie Alfred Escher geprägt worden, sondern von Konservativen und Etatisten, hätte es das «Swiss Miracle» (Joseph Jung) vielleicht nie gegeben. Die repräsentative Demokratie war also deswegen erfolgreich, weil in ihr Liberale dominierten. Ich gehe sogar noch weiter und wage die These, starke liberale Politiker hätten selbst in einer direkteren Demokratie als jener der Bundesverfassung von 1848 ein Befreiungswerk zustande gebracht.

Antikritische Sicherung

Natürlich ist die direkte beziehungsweise halbdirekte Demokratie keine perfekte Form der Entscheidung im Kollektiv. Nicht immer hat die Volksmehrheit recht, weder bei Abstimmungen noch bei Wahlen. Ferner kann es den Wert der Abstimmungen unterminieren, wenn es zu viele davon gibt. Kritik ist also zum Teil angebracht. Zwei häufig erhobene Vorwürfe sind dagegen haltlos.

Der eine Einwand lautet, direkte Demokratie verstärke die jeder Demokratie innewohnenden illiberalen Tendenzen. Es ist zwar richtig, dass Volksentscheide die Rechtsstaatlichkeit und die Rechtssicherheit gefährden können. Aber mit mehr Entscheidungskompetenz ausgestattete Regierungen, Parlamente und oberste Gerichtshöfe sind keine Garanten für durchgehend oder auch nur öfter freiheitssichernde Gesetze und Urteile. Die empirische Evidenz gibt das jedenfalls nicht her, und die Schweiz gilt auch nach der Rettungsaktion für die Credit Suisse noch immer als Hort der Stabilität und nimmt in internationalen Ranglisten der wirtschaftlichen und politischen Freiheit sowie der Wettbewerbsfähigkeit seit Jahren Spitzenplätze ein.

Der andere Einwand lautet, das Volk sei nicht in der Lage, komplexe Themen sachgerecht zu beurteilen. Auch er wird durch die schweizerische Realität widerlegt. Zwar kommt es zu Entscheiden, die eine Mehrheit von Experten für falsch halten, die internationalen Mehrheitsmeinungen widersprechen oder die im Rückblick von der Mehrheit des einst zustimmenden Volkes als Irrtum angesehen werden. Aber ist das in parlamentarischen Systemen anders? Das Schweizer Stimmvolk macht nicht mehr Fehler als die Parlamente der Nachbarländer und ist, trotz einigen irritierenden Abstimmungen der letzten Zeit, insgesamt erstaunlich wirtschaftsfreundlich. Schwarmintelligenz kann mit der Kompetenz von Volksvertretern und Experten mithalten, wenn sie sie nicht sogar schlägt. Seit dem Zweiten Weltkrieg – davor und währenddessen ohnehin – hat die Schweiz mit ihrem System nicht gröbere Dummheiten begangen als die Nachbarn, und sie war nicht stilloser oder unanständiger.

Einhegung der direkten Demokratie

Selbst die beste direkte Demokratie muss aber begrenzt sein. Dass Entscheide demokratisch zustande kommen, adelt nicht per se ihren Inhalt. In feudalen Ordnungen konnte die Bevölkerung ihre Freiheitsrechte nur gewinnen, indem sie die Macht der Herrschenden beschränkte. Staatsskepsis war daher Programm. Die Einführung der Demokratie nährte dann die Illusion, nun brauche es keine Beschränkung der staatlichen Macht mehr; die Zustimmung der Mehrheit sei Machtkontrolle genug. Doch auf die Mehrheit ist als Schranke der Macht kein Verlass. Mehrheiten können versucht sein, sich eine fast absolute Macht anzumassen. Solche Machtausübung durch demokratisch gewählte Institutionen kann für das Individuum ähnlich einschränkend sein wie die Machtausübung durch einen Fürsten.

Daher darf die Begrenzung der Demokratie niemals in einer Ausweitung der Macht der Eliten und Parlamente liegen. Das wäre nicht die von den Liberalen gewollte Begrenzung von Macht, sondern eine Verschiebung der Macht vom Volk, das diese Macht einst den Fürsten abgerungen hat, zu den Volksvertretern.

Ein Grundproblem kollektiver Entscheide, sofern sie nicht Einstimmigkeit verlangen, ist das Auseinanderfallen von Entscheidungskompetenz und Verantwortung. Wenn knappe Volksmehrheiten einen Entscheid treffen, der sich als nachteilig herausstellt, und zwar nachteilig für alle, tragen diese Mehrheiten nicht allein die Konsequenzen. Die unterlegene Hälfte trägt die Hälfte des Schadens. Erst recht gilt das, wenn der Volksentscheid fast nur die unterlegene Minderheit belastet.

Bei der repräsentativen Demokratie ist es noch gravierender. Parlamente können an der Mehrheit vorbei regieren und die Mehrheit eines Volkes belasten. Da Abgeordnete praktisch nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wird das liberale Prinzip der Haftung ausgehebelt. Das spricht für die direkte Demokratie als kleineres Übel und für eine sachliche und räumliche Beschränkung der Demokratie.

Längst nicht alles, was heute demokratisch entschieden wird, gehört in die öffentliche Domäne. Alle Demokratien sündigen hier. Und längst nicht alles, was kantonal, eidgenössisch oder europäisch geregelt wird, müsste auf dieser Ebene geregelt werden. Neben der sachlichen und geografischen Begrenzung empfiehlt es sich auch, die Demokratie durch Selbstbindungen und autonome Institutionen, die der Demokratie weitgehend entzogen sind, einzuhegen. Für Ersteres sind Schuldenbremsen ein Beispiel, für Letzteres Notenbanken.

Resilienz gegenüber «schlechtem Personal»

Der Aufbruch von 1848 zeigt, dass liberale Ordnungspolitik ohne direkte Demokratie möglich ist. Zumal nach Kriegen und Krisen können kluge Köpfe ein liberales Programm sogar besser in einer repräsentativen Demokratie durchziehen. Ein Beispiel sind die Wirtschaftsreformen Ludwig Erhards nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Deutschland die Besatzungsmächte das Sagen hatten.

Weil Freiheit unteilbar ist, braucht es für eine liberale Gesellschaft politische Partizipation. Kein System gewährt sie so sehr wie die direkte Demokratie. Trotzdem ist sie nicht hinreichend. Sie kann illiberale Gesetze erlassen oder in eine dogmatische Demokratie kippen. Ideal wäre daher, es gäbe liberale Persönlichkeiten, die es verstünden, in der direkten Demokratie Mehrheiten für die Freiheit zu gewinnen.

Doch Ideale sind nicht die Realität. Politische Ordnungen müssen gegenüber Abweichungen vom Ideal möglichst robust sein. Das ist die direkte Demokratie insofern, als sie weniger von der moralischen und intellektuellen Qualität des Führungspersonals abhängt. Böse Zungen behaupten ja, der Bundesrat sei die schwächste Regierung der Welt. Trotzdem ist das Land seit Jahrzehnten erfolgreich unterwegs und in den Rankings weit vorne. Das kann eigentlich nur heissen, dass die Führungsschwäche in einer direkten Demokratie keinen grossen Schaden anrichtet. Für Krisen, in denen rasche Entscheide nötig sind, kann man eine temporäre Führung ausserhalb des Bundesrates suchen, wie im Krieg einen General. Sonst aber fährt die Schweiz seit 1874 mit ihrem Vertrauen in die «Weisheit der vielen» nicht schlecht.

Neben der liberalen, normativen Begründung für die direkte Demokratie gibt es also eine resultatorientierte: Die direkte Demokratie hat sich mit Blick auf das Zieldreieck Freiheit, Glück und Wohlstand bewährt. Das ist Grund genug, sie zu hegen und durch kluge Reformen zu sichern.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation. Vor kurzem hat er zusammen mit Lukas Gschwend und Clemens Fässler das Buch «Spirit of ’48. Ehrengabe für Joseph Jung» herausgegeben. Der vorliegende Text basiert auf seinem Beitrag zu diesem Buch und einer Rede vor dem Verein für wirtschaftshistorische Studien in Zürich am 3. Juli 2023.

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