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Zum Glück lassen sich unterschiedliche Charaktere und Begabungen nicht einebnen

Startgerechtigkeit ist ein hohes liberales Gut. Doch wenn man vor lauter Fixierung auf die Gleichheit die Kinder schon zu früh aus der familiären in die kollektive Obhut überführt, beschädigt man einen Pfeiler der liberalen Gesellschaft.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 31.10.2023

Die Startchancen am Lebensanfang sind für jedes Kind anders.

«Zur richtigen Zeit geboren sein und am richtigen Ort . . .»: Das ist der Anfang eines Liedes des österreichischen Kabarettisten Hans Peter Heinzl (1942–1996), das die historische und die weltweite Ungleichheit ins Visier nimmt. Es kam mir in den Sinn, als ein ehemaliger Mitarbeiter am Rande eines Gesprächs ein Thema aufwarf, das mich seit langem beschäftigt.

In den meist emotional geführten Diskussionen über eine gerechte Gesellschaft betonen Liberale immer, dass Gerechtigkeit und Gleichheit zwei Paar Schuhe seien, dass allerdings die Gleichheit vor dem Gesetz ein oberstes Prinzip der Gerechtigkeit sei. Hingegen halten Liberale wenig von einer Umverteilung, die nicht der Hilfe für die schwächsten und ärmsten Mitglieder der Gesellschaft dient, sondern generell eine Angleichung der Einkommen anpeilt.

Erfolg dank Unterschieden

Unterschiede jeglicher Art, auch der Einkommen, sind nämlich ein Wesensmerkmal freiheitlicher Ordnungen, ja sie machen geradezu deren Qualität und deren Erfolg aus. Deshalb halten Liberale den Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit die Leistungsgerechtigkeit entgegen, die aber nur Sinn ergibt, wenn auch Chancengleichheit herrscht.

Doch das mit der Chancen- oder Startgerechtigkeit sagt sich so leicht. Die Menschen werden mit unterschiedlichen Erbanlagen in unterschiedliche Familienverhältnisse hineingeboren, die sich nicht nur hinsichtlich Vermögen und Einkommen, Status und Macht, Bildung und Beruf unterscheiden, sondern auch hinsichtlich Liebe und Geborgenheit, Leistungsdenken und Förderung, Selbstbewusstsein und Risikobereitschaft, Angst und Zuversicht.

Schon nach der Geburt vereinheitlichen?

Wollte man mit dem Ziel der Chancengleichheit diese Unterschiede weitgehend ausmerzen, müsste man im Wissen um die Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung die Kinder schon sehr früh, am besten gleich nach der Geburt, aus den Familien herausnehmen, weitgehend staatlich betreuen und «vereinheitlichen».

Viele Gründe sprechen gegen ein solches Vorgehen. Die meisten Unterschiede der Begabungen und Charaktere lassen sich zum Glück nie wirklich einebnen. Ferner ist staatliche Betreuung ja ebenfalls nie homogen. Bei kleinen Kindern kommt es weniger auf Lehrpläne an als auf Lehrpersonen. Und die sind so unterschiedlich wie Familien.

Angleichung auf tiefem Niveau

Ausserdem führt dieses Streben nach mehr Gleichheit wie in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft zu Angleichung nicht etwa auf hohem oder wenigstens mittlerem, sondern auf tiefem Niveau. Schliesslich und vor allem schützt eine freiheitliche Gesellschaft nicht bloss die Individuen, sondern auch deren Zusammenschluss in Partnerschaften und Familien.

Lediglich bei Machtmissbrauch oder schwerer Vernachlässigung ist der Staat gefordert. Liberale Chancengerechtigkeit kann daher nur heissen, dass man den Zugang zum Bildungssystem weit offen hält, Begabungen, wenn man sie erkennt, unabhängig vom familiären Umfeld fördert und versucht, Hürden, etwa sprachliche Hürden, nicht zu beseitigen, sondern zu überwinden. Treibt man dagegen das Streben nach Startgleichheit auf die Spitze, landet man statt in einer gerechten Welt in einer inhumanen, totalitären Hölle.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

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