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Vorsicht bei der Wortwahl: Radikalliberal ist nicht ultrarechts

In den Medien wird konsequenter Liberalismus oft mit einer extrem rechten Position gleichgesetzt, zum Beispiel bei der Präsidentenwahl in Argentinien. Doch die marktwirtschaftlichen Überzeugungen des polarisierenden Kandidaten Javier Milei sind nicht rechts, sondern Ausfluss liberaler Vernunft sowie des Scheiterns der bisherigen Politik.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 17.10.2023

Der Präsidentschaftskandidat Javier Milei hat mit seiner populistischen Art viele Argentinier überzeugen können.
Javier Corbalan / AP

Die Berichte über die Präsidentschaftswahl in Argentinien am 22. Oktober zeigen, wie mit Sprache Politik gemacht wird. Sprache entscheidet darüber, wie wir Sachverhalte oder Menschen wahrnehmen und bewerten.

Javier Milei, der in den Primärwahlen mit etwas über 30 Prozent der Stimmen am besten abschnitt, wird in den Medien durchwegs als ultrarechts, äusserst rechts, extrem rechts beschrieben; und gleichzeitig, weil er sich als Anarcho-Kapitalist versteht, auch als ultraliberal und radikalliberal. Zudem werden extrem rechts und ultraliberal jeweils bunt gemischt und als Synonyme verwendet. Dabei passt der Mann angesichts seiner Widersprüche höchstens in die Schublade des Populismus.

Auftritt mit der Kettensäge

Tatsächlich erinnert sein Auftreten in seiner ungehobelten Respektlosigkeit an Donald Trump und Jair Bolsonaro. Milei ist laut und schrill, provoziert, spielt mit Tabus, nennt Papst Franziskus einen Hurensohn und seine politischen Gegner Parasiten, und um zu signalisieren, wie radikal er den Staat abbauen möchte, tritt er mit einer Kettensäge auf.

Die katholische Kirche lehnt er ab (angeblich studiert er die Thora und liebäugelt mit dem Judentum), er ist aber gegen Abtreibungen, hingegen für gleichgeschlechtliche Ehen und die freie Wahl des Geschlechts. Waffenbesitz und Drogenkonsum will er liberalisieren. Den menschengemachten Klimawandel hält er für eine linke Erfindung. Das ist eine merkwürdige Mischung aus konservativen, linken und libertären Ideen, zum Teil extrem, meist jedoch bloss schillernd und schräg.

Wo er sich von Trump und Bolsonaro unterscheidet

Wirtschaftspolitisch spielt Milei jedoch als Ökonomieprofessor und -berater nicht nur in einer anderen Liga als Trump und Bolsonaro, sondern er legt den Finger auch auf entscheidende wunde Punkte. Argentinien, 1913 fast so reich wie die Schweiz, 50 Jahre später noch fast so reich wie Italien, wirtschaftet seither nur ab.

Es ist massiv überschuldet; seit der Jahrtausendwende hat es die Schuldzahlungen zweimal ausgesetzt. Der Peso wird ständig weniger wert. Die Inflation ist dreistellig, in Südamerika nur von Venezuela übertroffen. Die Ersparnisse schmelzen also innert eines Jahres auf weniger als die Hälfte. Der wuchernde Sozialstaat lässt sich so nicht finanzieren, zumal es etwa zwei Drittel mehr Beamte, Rentner und Sozialhilfeempfänger gibt als Menschen, die in der Privatwirtschaft arbeiten. 40 Prozent der Argentinier gelten als arm.

Naheliegende Rezepte

Solch gewaltige Probleme relativieren Mileis angeblichen Extremismus. Die Privatisierung des lamentablen Gesundheitssektors und des Bildungswesens, die Reduktion der Staatsausgaben, Steuersenkungen und eine Durchforstung des Regulierungsdschungels sowie die Aufgabe des Peso zugunsten des Dollars sind naheliegende und erfolgversprechende Rezepte.

Sie würden ein Land, das zu den zehn wirtschaftlich unfreisten der Welt gehört, nicht zu einem Hort des Ultraliberalismus machen, sondern wären nur im besten Sinne radikal, würden also die Übel an der Wurzel anpacken. Erfolg können sie jedoch nur haben, wenn sie innenpolitisch umsetzbar sind und wenn Milei das Vertrauen des Auslands gewinnen kann. Dafür müsste er sich gesellschaftspolitisch und im Auftritt sicher mässigen.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

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