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Von wegen Neoliberalismus: Wir leben im Neomerkantilismus

Für fast alle wirtschaftlichen, viele soziale und selbst manche gesundheitlichen Probleme unserer Zeit kennen erstaunlich viele Zeitgenossen nur einen Sündenbock. Schuld ist der «böse Neoliberalismus». Doch wie steht es um die ihm zugeschriebenen Charakteristika, um die Deregulierung, das Kaputtsparen, den Sozialabbau, den globalen Wettbewerb? Ein Faktencheck.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 12.12.2023

Verteufelte «Neoliberale»: der amerikanische Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher (1982)
Mal Langsdon / Reuters

Die Behauptung, der «Triumph des Neoliberalismus» sei an fast allen Übeln der Gegenwart in den westlichen Industriestaaten schuld, ist eine der perfidesten Tatsachenverdrehungen der Politikgeschichte. Selbst halbwegs liberal denkende Menschen übernehmen die These gedankenlos. Eine Mehrheit der vom Edelman-Trust-Barometer weltweit Befragten ist der Ansicht, der heutige Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Zur Erinnerung: Ronald Reagan war von 1981 bis 1989 der 40. Präsident der USA, Margaret Thatcher von 1979 bis 1990 Premierministerin Grossbritanniens.

Gier und Materialismus?

Die liberale Reformpolitik der beiden, die auf die ganze Welt ausstrahlte, wurde von ihren Gegnern als «neoliberal» verteufelt. Sie führe unter der Flagge von Deregulierung, Privatisierung und Globalisierung zu einem Kaputtsparen des Staates und zu Sozialabbau, begünstige Materialismus und Gier, vernachlässige das Gemeinwohl und forciere einen gnadenlosen Wettbewerb.

Doch leben wir wirklich in dieser Art Kapitalismus? Die Fakten sagen Nein. Die Fiskalquote, also jener Anteil an der jährlichen Wertschöpfung (BIP), den der Staat und obligatorische Sozialwerke für sich beanspruchen, hat sich seit den 1950er Jahren in der Schweiz verdoppelt, seit 1980 ist er von rund 23 Prozent auf 40 Prozent gestiegen. Der Grossteil des Anstiegs ist auf die Sozialabgaben zurückzuführen. Seit Jahrzehnten wächst zudem die Beschäftigung beim Staat schneller als in der Privatwirtschaft.

Der Schuldenbremse sei Dank

Dank Schuldenbremse lag die Bruttostaatsverschuldung der Schweiz Ende 2022 mit 27,6 Prozent des BIP zwar etwas unter dem Wert von 1970, doch rechnet man die nicht finanzierten Verpflichtungen ein, die aus der AHV auf den Staat zukommen, liegt die Verschuldung weit über 100 Prozent. Auch die Schweiz lebt auf Pump. In Deutschland ist der Schuldenberg seit 1980 gar von 240 Milliarden Euro auf über 2500 Milliarden Euro gewachsen, die Quote liegt um 65 Prozent, in der EU beträgt sie über 80 Prozent, in Frankreich über 110 Prozent, in den USA über 120 Prozent.

Bei der Regulierung sieht es gleich aus. Der Regulierungsbestand im nationalen und im internationalen Recht hat sich in der Schweiz seit den «neoliberalen» 1980er Jahren bis 2015 von 35 000 Seiten auf fast 70 000 Seiten verdoppelt – und ist dort nicht stehengeblieben. Auch nimmt die Zentralisierung zu. Der Bund mischt sich in verfassungsmässige Zuständigkeiten der Kantone ein, mit entsprechenden Einbussen an Vielfalt, aber auch an haushälterischem Umgang mit Geld.

Das hässliche Haupt des Protektionismus

Schliesslich erhebt die protektionistische Industriepolitik ihr hässliches Haupt. Unter Reagan sowie Vater und Sohn Bush verstanden sich die USA weitgehend als Garant offenen Welthandels. Seit Donald Trump gilt nun «America first», Joe Biden hat mit enormen Subventionen wie der Inflation Reduction Act noch eins draufgesetzt, und die EU will in nichts nachstehen.

Der sogenannte Neoliberalismus hat also nicht triumphiert. Die Linkspopulisten sollten sich einen anderen Sündenbock suchen. Vielleicht wären wir ohne Reagan und Thatcher höchstens noch schneller im derzeitigen, alles andere als liberalen Neomerkantilismus gelandet, mit seinem Hang zu Staatsausbau, Staatsverschuldung, Regulierung und Protektionismus.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.
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