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Der Liberalismus ist eine Zumutung

Der Liberalismus mutet den Menschen viel zu. Das Leben in Freiheit ist unbequem und anstrengend, geprägt von Unsicherheit und Ungleichheit. Die liberale Gesellschaft verspricht kein Schlaraffenland, ist aber gerade deshalb menschengerecht.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 05.03.2024

Sich im Wettbewerb mit anderen behaupten zu müssen, ist nicht immer angenehm.

 

Der Titel dieser Kolumne wird Kritikern des Liberalismus gefallen. Sie diskreditieren fast jede liberale Idee als unzumutbar. So ist der Titel aber gerade nicht gemeint. Er beruht auf der Überzeugung, dass eine freie Ordnung den Menschen zwar viel Unbequemes zumutet, diese Zumutungen aber nicht unzumutbar sind. Sie sind realistisch und insofern menschengerecht.

Die liberale Gesellschaft ist und verspricht kein Schlaraffenland. Deshalb haben freiheitliche Lösungen einen schweren Stand. Utopismus verkauft sich besser als Realismus.

Konsum heute, Bezahlung morgen

Eine erste Zumutung besteht darin, dass der Liberalismus neben den Zwängen der Natur auch jene der Knappheit nicht als Einengungen der Freiheit versteht, sondern als Rahmenbedingungen jeder freien Ordnung. Zu ihnen zählt, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt, dass die Realisierung eines Vorhabens den Verzicht auf andere Projekte verlangt, dass daher viele Ansprüche nicht erfüllt werden können und dass «Konsum oder Investition heute, Bezahlung morgen» einen Preis in Form des Zinses hat.

Eine zweite Zumutung ist, dass Freiheit immer mit Ungleichheit der Ergebnisse einhergeht. Die Freiheit eröffnet Möglichkeiten. Was aus ihnen wird, hängt von Einsatz, Geschick, Zuverlässigkeit, Präzision, Innovation und Zufall ab. Die Ausgangsbasis kann für alle noch so gleich sein, in einer freien Gesellschaft wird es schon am Tag danach wieder Unterschiede geben.

Gegen Besitzstandwahrung

Daher fordert der Liberalismus nicht Ergebnisgleichheit, sondern Regelgerechtigkeit. Gleichzeitig stellt er sich gegen Strukturerhaltung und Besitzstandwahrung. Das Erreichte soll jeder und jede durch weitere Leistung sichern, nicht der Staat.

Eine dritte Zumutung, die Eigenverantwortung, bedeutet, dass man für sein Leben allein die Verantwortung trägt und nicht vom Staat Leistungen fordern kann, die das Leben angenehmer machen. Das ist anstrengend, stellt indessen keine Absage an eine kluge Sozialpolitik dar.

Diese muss maximale Eigenleistung fordern und darf die soziale Hilfe nur subsidiär anbieten. Eigenverantwortung äussert sich ferner darin, dass man den Menschen nicht in paternalistischem Eifer die Qual abnimmt, die ihnen die Vielfalt des Angebots bereitet. Und auch das Sich-Behaupten im Wettbewerb ist eine Art Eigenverantwortung.

Urvertrauen in spontane Prozesse

Eine vierte, letzte Zumutung liegt in der Unvorhersehbarkeit liberaler Ordnungen. Sie zeichnen sich aus durch Ergebnisoffenheit, das dezentrale Eingehen von Risiken, das Wechselspiel von Versuch und Irrtum, das Zulassen von Auf- und Abstieg sowie Gelassenheit gegenüber den Schwankungen der Wirtschaft. Zugrunde liegt dem ein Urvertrauen in das Ergebnis spontaner Prozesse. Doch die Menschen suchen Sicherheit. Das bietet der Liberalismus nicht – nicht weil er nicht will, sondern weil die geschichtliche Erfahrung lehrt, dass dies nicht möglich ist.

Wirtschaft und Gesellschaft sind nur beschränkt steuerbar. Das macht den Liberalismus trotz seinen Erfolgen für Wohlstand und Fortschritt zu einem sperrigen Produkt. Das Leben in Freiheit ist kein Honigschlecken – aber es gibt zumindest auf dieser Welt trotz all den Zumutungen keine bessere Alternative.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.
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