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Der Liberalismus ist nicht woke – Zwang und Freiheit sind ein Widerspruch

Zu den wichtigsten Anliegen des Liberalismus gehört die Minimierung von Zwang. Neuerdings gehen Zwänge von Minderheiten aus, die unter Begriffen wie «Wokeness» und «politischer Korrektheit» ein Einheitsdenken und -reden durchsetzen möchten.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 23.01.2024

Auch die Toilettenbeschilderung kann zum Politikum werden.
Imago

Der Liberalismus war von Anfang an geprägt von einem Aufbäumen gegen Zwang. Nicht gegen jeden Zwang, denn die meisten Liberalen sind keine Anarchisten. Sie halten eine staatliche Ordnung inklusive Gewaltmonopol für sinnvoll. Die Ablehnung der Liberalen galt und gilt dem Zwang, den Minderheiten über Mehrheiten ausüben, sowie jedem willkürlichen Zwang, der über das hinausgeht, was für das friedliche Zusammenleben und für die Sicherung der Freiheit der Individuen notwendig ist.

Daher setzten sich die Liberalen im 19. Jahrhundert gegen den elitären Adel und – in Kontinentaleuropa – gegen den Klerus zur Wehr. Deren autoritäre politisch-gesellschaftliche Herrschaft widersprach der Überzeugung, dass alle Menschen von Natur aus frei geboren werden und als Erwachsene fähig sind, für sich zu entscheiden und für die Folgen ihres Tuns Verantwortung zu tragen.

Moralische Überlegenheit

Heute sind die Zwänge andere. So muss der Liberalismus konsequent, aber ohne Panik gegen jene Zwänge antreten, die unter den Begriffen «politische Korrektheit», «Wokeness» und «Cancel-Culture» entstanden sind.

Minderheiten setzen im Brustton moralischer Überlegenheit mit Druck von der Strasse und Shitstorm-Drohungen sowie durch die Hintertüren von Parlament und Verwaltung Forderungen durch, die in der Regel nicht von Bevölkerungsmehrheiten getragen sind.

Man denke an die Versuche akademisch gebildeter Gruppen, die Sprache politisch neu zu konstruieren. Man denke an Quoten, mit denen fachliche Kompetenzanforderungen übersteuert werden, nur um in Führungsgremien eine Vielfalt von Geschlecht, sexueller Orientierung und Rasse abzubilden; liberal wäre es, solches nicht staatlich zu verordnen oder anzustupsen, sondern nur zuzulassen.

Der Vegi-Tag im Altersheim lässt grüssen

Man denke an die oft mit der Gesundheit legitimierten Eingriffe in den Alltag, die Vegi-Tage im Altersheim (nicht, weil von den Bewohnern gewünscht, sondern um die Welt zu verbessern), das Wegräumen von Salz auf den Restauranttischen, die Werbeverbote für Alkohol und mehr; liberal wäre es, durch Aufklärung zu erreichen, was Experten empfehlen, statt es der Bevölkerung aufzudrängen. Der Umgang mit Gesundheit und Risiken fällt unter die Eigenverantwortung.

Man denke schliesslich an die Auftritts- und Sprechverbote, mit denen parareligiöse Eiferer gegen Auffassungen vorgehen, die den ihren widersprechen, um so ihren eigenen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen. Wo die Aussage «Das darf man nicht laut sagen» Konjunktur hat, steht es um die Freiheit schlecht.

Der Stachel des Selbstzweifels

Liberale versuchen weder Sprache noch Gesellschaft auf dem Reissbrett zu gestalten, träumen nicht vom risikolosen Leben (lassen sogar die Selbstschädigung zu) und respektieren unterschiedlichste Lebensentwürfe und Meinungen, auch wenn sie sie mit Argumenten heftig bekämpfen.

Liberale sind also tolerant, nicht, weil sie alles für gleich gültig halten, sondern weil über jeder noch so starken Überzeugung und selbst über jedem «Wissen», also auch dem eigenen, das Damoklesschwert der möglichen Falsifikation hängt. Dieser Stachel des Selbstzweifels trennt sie von den Proponenten der politischen Korrektheit und der Cancel-Culture.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.
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