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Wie viel Mitwirkung wollen wir? Gedanken eines Souveränitäts-Apostels

In der für ein neues Abkommenspaket mit der EU entscheidenden Souveränitätsfrage herrscht Begriffsverwirrung. Entscheidend ist letztlich nicht so sehr die Staatssouveränität – völlig autonom ist ja ohnehin kein Staat –, sondern, wie ausgebaut die Mitwirkungsrechte der Bevölkerung sind. Diese Volkssouveränität ist ein einmaliger Erfolgsfaktor der Schweiz. Sie zu beschädigen, wäre fatal.

Gerhard Schwarz, Nzz.ch, 20.02.2024

Wie viel Mitbestimmung soll es sein? (Landsgemeinde in Appenzell, 2023).
Alessandro Della Valle / Keystone

Vor zwei Monaten hat der Bundesrat den Entwurf eines Verhandlungsmandats mit der EU verabschiedet. Als Schlüsselthema zeichnet sich wie beim gescheiterten Rahmenabkommen erneut die Souveränität ab. Wer das Thema nur schon anspricht, wird schnell als «Souveränitäts-Apostel» abgekanzelt. Dabei gibt es nicht nur unter den Gegnern einer vertraglichen Vertiefung Souveränitäts-Apostel, sondern auch unter den Befürwortern.

Erstere überhöhen die Souveränität und tun, als ob die Schweiz in ihren Entscheiden völlig frei wäre und durch den angepeilten Vertrag mit einem Schlag zu einer Kolonie würde. Das sind Übertreibungen, und die sind selten sachdienlich.

Freiwillig oder «freiwillig»?

Die Souveränitäts-Apostel der Gegenseite übertreiben aber nicht weniger, wenn sie behaupten, ein freiwilliger Vertrag verletze nie die Souveränität, ja das anvisierte Abkommen stärke diese sogar. Abgesehen davon, dass in dieser Betrachtung die Souveränität der diversen innerstaatlichen Ebenen fehlt, stellt sich die Frage, wie freiwillig man handelt, wenn Druckversuche (Börsenäquivalenz, Forschungskooperation) und eine Drohkulisse im Falle der Nichtunterzeichnung das Umfeld bilden.

Unbestritten dürfte dagegen sein, dass alle Souveränität begrenzt und kein Staat unabhängig ist. Geopolitik, Nachbarländer, Wirtschaft, Natur, Technik, Militär begrenzen die Autonomie. Für kleinere Staaten, zumal, wenn sie inmitten eines Kontinents und nicht auf einer Insel liegen, gilt das erst recht. Daher sollte man die staatliche Souveränität nicht überbewerten. Was nützt es den Russen, dass sie in einem souveränen Staat leben?

Alle paar Jahre eine Wahl – das war es dann

Entscheidend ist aus liberaler Sicht vielmehr die Volkssouveränität. Sie ist nirgends so ausgeprägt wie in der Schweiz mit ihrer halbdirekten Demokratie und Volksabstimmungen, in denen Regierung und Parlament immer wieder der Tarif durchgegeben wird. Ich habe rund 24 Jahre in Ländern gelebt, deren Bevölkerung alle paar Jahre einen starken Präsidenten oder ein Parlament wählen durfte – das war es dann. Die Volkssouveränität der Schweiz ist einmalig und ein Erfolgsfaktor auch für Gesellschaft und Wirtschaft.

Sie wird nicht nur gefährdet, sondern beschädigt, wenn gegenüber dem, was sich bis jetzt für ein gemeinsames Abkommen abzeichnet, nicht noch markante Verbesserungen erfolgen. Gewiss berücksichtigt der Souverän auch jetzt bei Abstimmungen manchmal mögliche Reaktionen des Auslands – doch gelegentlich tut er es nicht.

Nur formaljuristisch souverän

Und gewiss findet viel autonomer Nachvollzug schon heute statt. Aber das Abkommen brächte eine Umkehr. Von der Schweiz würde verlangt, dass sie sich in den vom Abkommen abgedeckten Bereichen immer den durch die EU neu erlassenen Regeln unterzieht. Tut sie es nicht, muss sie Sanktionen gewärtigen. Formaljuristisch kann man das zwar vielleicht als souveränes Handeln darstellen.

Doch wer das rein praktisch nicht als permanenten Souveränitätstransfer vom Schweizer Souverän zu Entscheidungsebenen der EU, die vom Volk weit entfernt sind, zu erkennen vermag, ist mit Blindheit geschlagen oder will nicht sehen. Vor diesem Hintergrund bin ich mit Überzeugung ein Volkssouveränitäts-Apostel.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.
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