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Was von der EU übrigbleibt


(Weltwoche – Essay)

Der ­Versuch zum impliziten Aufbau eines euro­päischen Bundesstaats ist gescheitert. Deutschland ­erscheint als grosser Gewinner dieser Entwicklung, wichtige europäische Kernländer wie Italien und Frankreich sind die Verlierer.

Von Konrad Hummler

Für eine Analyse kommt es sehr darauf an, als welche Art Gebilde man die EU einstuft. Klassisch ist die Sicht­weise eines Zusammenschlusses von befreundeten Nationen zu einem neuen Ganzen sui generis. Demnach entspricht die EU dem Versuch, ja der faktisch vollzogenen Hinwendung souveräner Staaten zur teilweisen Aufgabe ihrer selbst und zur Einbringung in ein übergeordnetes System, dem seinerseits mangels begriffswesentlicher Elemente keine echte Staatlichkeit zukommt. Einer «Wirtschaftsunion» nach Lehrbuch entspricht die EU längst nicht mehr.

Etwas salopp könnte man sie Quadratur des Zirkels nennen, deren offenkundige Mängel wie das Demokratiedefizit und die Bürgerferne, wie die seltsame Dreiecks-­Governance ­zwischen Ministerrat, Kommission und dem kompetenzarmen Parlament, wie die atemberaubend schuldenorientierte Finanzierung sozusagen aller gemeinschaftlichen Entitäten über Garantien für (überschuldete) Mitgliedsländer und so weiter durch die hohen Ziele ­einer stabilen europäischen Friedensordnung und eines wohlfahrtspendenden Binnenmarkts kompensiert werden. Die EU kommt ohne ein solches konkretisierendes, auf übergeordnete Zielsetzungen ausgerichtetes, normatives Suffix nicht aus.

Und genau darin liegt analytisch das ­Problem des Gebildes: Durch die intrinsisch bedingte Infragestellung ebendieser Ziel­setzungen implodiert es rein begrifflich. Friedens­ordnung: Wegen (intrinsisch bedingter) Nichtbeherrschung der Zuwanderungsproblematik und der Binnen­wanderung besteht die Wahrscheinlichkeit, dass wesentliche europäische Länder politisch ins Extreme kippen. Wohlfahrt: Wegen (intrinsisch bedingter) währungs- und geldpolitischer Verzerrungen und der Unmöglichkeit, Ungleichgewichte anders als über politisch gesteuerte Fiskal- und Transfermechanismen auszugleichen, haben sich Wohlfahrtsverluste ergeben, die sich in nach wie vor schreckenerregender Arbeitslosigkeit und viel zu tiefen Wachstumszahlen äussern, dies wohlgemerkt bei einer völlig haltlos akkommodativen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.

Eine gemeinsame Währungsunion kann nur funktionieren, wenn die Mitgliedsländer gleiche Wirtschaftszyklen und ähnliche Strukturen aufweisen. Dies war von Beginn weg nicht gegeben. Mit der Aufnahme neuer Länder aus dem Osten Europas wurde untermauert, dass es weniger um eine Wirtschaftsunion als um eine gemeinsame «politische Union» geht. Deswegen kann man sich alternativ das Gebilde der EU als den Versuch eines echten, d. h. gewöhnlichen Nation-Building, Aufbaus eines europäischen Bundesstaats, vorstellen. So wurde und wird viel Gewicht auf die Existenz eines Menschen gelegt, der Europäer heis­sen und den Deutschen, Italiener, Franzosen, Ungarn und Griechen bald einmal ablösen soll.

Staatsvolk Europäer also. So wurde das «Staatsgebiet» laufend erweitert, namentlich nach dem Fall der Berliner Mauer unter dem Begriff der «Osterweiterung», bis Russland 2015 dem Treiben in der Ukraine ein vorläufiges Ende setzte. So übertrug man über das Schengen- und das Dublin-Abkommen wesentliche Aufgaben zur Gewährleistung der inneren und äusseren Sicherheit an das übergeordnete Gebilde, und man errichtete mit dem Europäischen Gerichtshof auch eine ultimative Instanz, die gemeinsamem Recht zum Durchbruch verhelfen kann. Staatsgewalt also.

Die Triade Staatsvolk – Staatsgebiet – Staatsgewalt gemäss Jellinek wäre also (teilweise) erfüllt, die Staatlichkeit entsprechend gegeben. Zudem hat sich durch die Einführung der ­Einheitswährung, wenigstens auf ­einem Teil des Staatsgebiets, auch noch ein zusätzliches kohärenzstiftendes Element ergeben, genauso durch die verschiedenen gemeinschaftlichen Stabilitäts- und Fördermechanismen wie den EFSF, den ESM und den EFSI, die eine dem mittelalterlichen Lehenswesen ähnliche Reichsbildung von oben nach unten bewirken. Der Vorstellung der EU als Staatsgebilde stehen allerdings der Mangel ­einer ausdrücklichen Verfassung und die ­Lücken im Aufbau, am offenkundigsten im Fehlen einer eigenen Streitmacht, entgegen. Nur: Auch England, unbestrittenermassen ­eine Nation, hat keine ausdrückliche Verfassung. Und: Das Militärische war halt in Europa seit je an die Nato bzw. extraterritorial an die USA delegiert.

Die EU, nicht gedacht als Gebilde sui generis, sondern als gewöhnliches Land, kommt ohne normativen Suffix aus. Innerer Frieden und Wohlfahrt gehören ohnehin zur Begrifflichkeit eines Staats. Und so gesehen kommt einer gewöhnlichen Nation Europa auch keine übergeordnete Moralität zu im ­Vergleich zu anderen gewöhnlichen Nationen wie Deutschland oder Italien oder Frankreich; europhile Rhetorik, wie sie gerade in Deutschland bis zum Exzess gepflegt wird (keine politisch ­korrekte Rede ohne Glaubensbekenntnis zur «Union»), wäre dann ganz gewöhnlich nationalistische Rhetorik, im Fall von Deutschland vielleicht mit kompensatorischem Charakter, weil man das eigene Land ja als Nation nicht lieben darf. Das Bild der EU als Versuch des Aufbaus einer Nation hat zudem und vor allem aber auch den Vorteil, dass man ohne die Komplikation, es mit einem Gebilde sui generis mit Suffix zu tun zu haben, völlig leidenschaftslos auch vom Scheitern des Nation-­Building sprechen kann.

Aus derzeitiger Sicht ist das so: Ja, der ­Versuch zum impliziten Aufbau eines euro­päischen Bundesstaats ist gescheitert. Die ­präexistenten, kohärenzgefährdenden Differenziale zwischen den einzelnen Teilen Europas haben sich über die vergangenen Jahre ausgeweitet. Deutschland erscheint als grosser Gewinner dieser Entwicklung, wichtige europäische Kernländer wie Italien und Frankreich als Verlierer. Mit dem Austritt Grossbritanniens wird sich ein schwer überbrückbares Ungleichgewicht innerhalb der Union ergeben. Die Lösung der wesentlichsten Herausforderungen zur Sicherstellung von Frieden und Wohlfahrt rückt in immer weitere Ferne, derweil die Schuldenfrage immer wieder gespenstisch aus dem Orchestergraben auftaucht.

Die Überlebenswahrscheinlichkeit eines solchen Gebildes ist gering. Seine Teile, die einzelnen Mitgliedsländer, werden immer weniger Vorteile im Kollektiv sehen und aus internen politischen Gründen gezwungen sein, sich selber um die eigenen Probleme zu kümmern. Dies ist übrigens eine Entwicklung, die schon ­munter Momentum angenommen hat: So rief Wien selbstständig die früheren Vasallenstaaten aus dem Habsburgerreich zur Schliessung der Balkanroute ­zusammen, um den Migrations­strömen ­einen Riegel zu schieben, derweil Bundeskanzlerin Merkel ohne viel EU-­Support bilateral und recht risikoreich ein ähnlich ausgerichtetes Separatabkommen mit der Türkei vermittelte.

Wahrscheinlich ist, dass gelegentlich aus der Asche neue europäische ­Phönixe emergieren, sorgsam eingepackt in ­eine politisch korrekte Begrifflichkeit der «Weiter­entwicklung» der Union. Aber das, was ­einmal angedacht war, wird es in dieser räumlichen Ausbreitung und diesem Vertiefungsgrad nicht mehr lange geben. Man mag das bedauern oder auch nicht, doch hier geht es um eine möglichst passionslose Beurteilung Europas und dessen instabiler und unwägbarer Zukunft.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem neuen Buch «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?», herausgegeben von Franz Jaeger und Konrad Hummler. NZZ Libro. 256 S., Fr. 49.–

Konrad Hummler war Teilhaber der Privatbank Wegelin und Verwaltungsratspräsident der NZZ. Heute ist er Partner der Beratungsfirma M1.

Quelle: https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2017-25/ausland/zur-lage-der-eu-die-weltwoche-ausgabe-252017.html

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