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Hat die Elite-Demokratie Zukunft?

Oliver Zimmer51. Economic Conference

51. Economic Conference – Zürich, 31. Mai 2021
«Souveränität von unten. Die Schweiz im internationalen Umfeld»
Referat von Oliver Zimmer

 
Demokratien – und besonders liberale Demokratien – sind auf den Beitrag von verantwortungsvollen Eliten angewiesen. Ohne Eliten, die zur Demokratie stehen – nicht aus Eigeninteresse, sondern angetrieben von einem bürgerlichen Verantwortungsgefühl – ohne solche Eliten hat die liberale Demokratie langfristig keine Chance. Die Frage, die sich stellt, ist folglich: Welche Art von Elite ist in der Lage, der liberalen Demokratie eine Zukunft zu geben?

Meine Antwort lautet, dass zukunftsfähige Demokratien auf eine Elite angewiesen sind, die sich einer bestimmten sozialen Epistemologie verpflichtet fühlt: einer bestimmten mentalen Landkarte. Man könnte diese als aufgeklärte Skepsis bezeichnen. Worum geht es dabei? Vor allem um die Fähigkeit, die eigene Position kritisch zu hinterfragen. Eine solche Elite akzeptiert – und das scheint mir der springende Punkt –, dass sie keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit besitzt; dass die Suche nach Wahrheit in der Politik nur als Folge eines Wettstreits funktioniert; eines Wettstreits zwischen verschiedenen Positionen, Ideen, Werten und Interessen; in diesem Wettstreit lassen sich Vernunft und Emotionen nicht fein säuberlich voneinander trennen.

Eine aufgeklärte Skeptikerin ist somit eine Person, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst ist. Sie weiss, dass eine liberale Demokratie nur dann über den Tag hinaus Bestand hat, wenn sie verschiedene Lebenserfahrungen abzubilden vermag. Wenn zu viele Leute an die alternativlose Wahrheit glauben, geht dem demokratischen Leben mit der Zeit der Schnauf aus.

Nun ist es aber gerade diese aufgeklärte Skepsis, die kürzlich aus der Mode gekommen ist. An ihre Stelle tritt vermehrt eine epistokratische Kultur. Epistokraten orientieren sich an einem anderen Vernunftbegriff als Demokraten. Für sie erschliesst sich Wahrheit vornehmlich über eine an abstrakten Normen orientierte Deduktion. Damit verweisen sie die Wahrheit in eine ausserhalb von Politik und sozialer Erfahrung liegende Sphäre; eine Sphäre, die sich dem Streit der Ideen und Werte entzieht.

Mit Platos Philosophenkönigen verwandt, lässt sich die Epistokratie somit als eine Herrschaft der Wissenden definieren. Epistokraten glauben, dass sie einen privilegierten Zugang zur Wahrheit besitzen – dank ihrer Bildung und ihrer angeblich zeitgemässen Grundhaltung. Ihr Machtanspruch ist grösser als unter liberal-demokratischen Bedingungen einlösbar.

Als politische Vision ist die Epistokratie keineswegs neu. Von Plato war schon die Rede gewesen. Politisch bedeutsam wurde das epistokratische Denken wohl erstmals in den von Reformation und Gegenreformation geprägten Kulturkämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts – wie genau und warum gerade dann, ist eine Frage für die künftige Forschung. Sicher ist, dass die epistokratische Vision die modernen Massendemokratien von Anfang an begleitete. Etwa im 18. Jahrhundert, als führende Republikaner in den USA und in Frankreich einer Beschränkung der politischen Mittbestimmung das Wort redeten. Was sie dabei leitete, war nicht allein die pragmatische Einsicht, wonach grosse Länder für die partizipatorische Demokratie ungeeignet seien. Ebenso wichtig war das Misstrauen gegenüber anderen sozialen und kulturellen Milieus.

Wir erleben heute ein Revival dieser epistokratischen Kultur. Etwa an den Akademien, wo Sozialwissenschaftler wie Bryan Caplan oder Scott Althaus der liberalen Mehrheitsdemokratie ein schlechtes Zeugnis ausgestellt haben. Die Normaldemokratie sei aufgrund ihrer Defizite unfähig, Tugendhaftes zu leisten. Sie sei nicht in der Lage, nachhaltig fortschrittlich zu wirken. Der heute bekannteste Vertreter dieser Position ist jedoch der USPhilosoph Jason Brennan. In seinem Bestseller Against Democracy schreibt Brennan, die Demokratie sei ungerecht. Denn sie verschaffe inkompetenten Bürgern ein politisches Mandat, das ihnen aufgrund ihres bescheidenen Wissensstandes nicht zustehe. Als Lösung offeriert Brennan ein altest Rezept – ein nach sozialen Klassen abgestuftes Wahlrecht, das politische Mitbestimmung faktisch an formale Bildung und Besitz knüpft. Neu daran ist bloss das verlangte Prüfungsverfahren. Mit seinem voter qualification exam fordert Brennan eine Art politische Fahrprüfung für Bürger.

Als weitaus wirkungsvoller als diese professoralen Voten für die epistokratische Kultur erweist sich jedoch ihre Verbreitung durch supranationale Organisationen und Regelwerke. So setzt die EU bekanntlich deutlich mehr Vertrauen in ein Triumvirat von Technokraten, Richtern und Kommissaren als in gewählte Politiker oder stimmberechtigte Bürger. Als stille Inspiration wirkt das epistokratische Denken ausserdem im Bereich vieler globaler Verlautbarungen, Abkommen und Verträge. Von ihren Befürwortern werden solche Abkommen oft als “soft law” beschrieben. Gesamthaft stärken sie jedoch ein Narrativ der globalen Gerechtigkeit, das dazu beiträgt, den Spielraum für demokratische Entscheidungsfindung immer mehr zu verkleinern. Der kürzlich von der UNO verabschiedete Migrationspakt liefert hierzu ein eindrückliches Beispiel.

Was im Eifer zeitgenössischer Tugendgefechte meist übersehen wird, ist die geistige Verwandtschaft, die Epistokraten und Populisten miteinander verbindet. So glauben beide daran, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu besitzen. Auch bedienen sich beide komplexitätsreduzierender Tricks. Während stramme Populisten ein angeblich unfehlbares Volk zur Quelle der Wahrheit verklären, wohnt die Wahrheit für Epistokraten in einer mit Universitätszertifikaten ausgestatteten Elite.

Die geistige Verwandtschaft der beiden Lager zeigt sich auch in ihrer politischen Rhethorik. Wenn Epistokraten nach mehr globalen Regeln rufen, ernten sie von Populisten den Vorwurf, ihr Land aus persönlichen Gewinnmotiven zu verkaufen. Wenn Bürger die Politik offener Grenzen kritisieren, werden sie von Epistokraten als unaufgeklärte Gesellen diffamiert. Auf die geistige Verwandtschaft von Epistokraten und Populisten hat vor kurzem auch die Historikerin Sophia Rosenfeld hingewiesen: “Letzlich”, so schreibt sie in ihrem Buch Democracy and Truth, “imitieren in der Wolle gefärbte Populisten und Technokraten einander. Beide sind strikt gegen intermediäre Körperschaften und prozedurale Legitimität. Vor allem aber lehnen sie beide die Vorstellung ab, wonach sich Wahrheit in der Politik nur über die Konkurrenz der Ideen bestimmen lässt.”

Moderne liberale Demokratien kommen ohne Eliten nicht aus. Doch wenn die Demokratie nicht nur dem Namen nach überleben soll, braucht sie eine Elite, die Neugierde mit Bescheidenheit verbindet. Eine, die bereit ist, zu akzeptieren, dass die Rolle, die sie bei der Gestaltung politischer Ergebnisse spielen kann, stets begrenzt sein wird.

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