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Die Banalisierung der Solidarität

(Nzz.ch, 10.01.2023)

Solidarität ist überall in aller Munde – und deswegen in Gefahr. Sie ist ein liberales Anliegen – und so sollte sie auch gepflegt werden, individuell und von unten.

Gerhard Schwarz

Solidarität ist eben gerade nicht obligatorisches Tun, sondern etwa freiwilliges Spenden für einen guten Zweck (Bild: Heilsarmee-Weihnachtsmann in New York um 1910).

Gegen Jahresende, im Umfeld von Weihnachten, ist in politischen Reden und Texten noch mehr von Solidarität die Rede als sonst. Der Begriff wird geradezu inflationär verwendet. Pandemie, Krieg, Klima, Energie, Teuerung – überall wird die Solidarität beschworen, als ob sie ein Allheilmittel wäre. Richtig ist, dass der durch Solidarität geförderte und gesicherte gesellschaftliche Zusammenhalt für die Stabilität und die gedeihliche Entwicklung einer liberalen Gesellschaft zentral ist. Er ist eine der wichtigsten weichen Ressourcen eines Landes. Doch Ressourcen sind in der Regel endlich, jedenfalls knapp. Daher sollte man der Solidarität Sorge tragen.

Wenn Helfen mit Nachteilen verbunden ist

Solidarität meint, dass Menschen sich gegenseitig helfen und füreinander einstehen, auch dann, wenn es für diejenigen, die helfen, mit Kosten, Unannehmlichkeiten, ja Nachteilen verbunden ist – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Leider wird jedoch der Begriff der Solidarität überstrapaziert. Dadurch wird die Solidarität banalisiert, abgewertet und letztlich gefährdet. Es sind vor allem drei Tendenzen, die der Solidarität mehr schaden als nützen.

Erstens gedeiht veritable, nicht bloss symbolische Solidarität eher, wenn Menschen, die in Not sind und unterdrückt werden, uns geografisch, kulturell oder durch gemeinsame Interessen und Werte besonders nahe sind. Man mag das bedauern, aber man erweist der Solidarität keinen Dienst, wenn man sie auf die ganze Welt auszudehnen trachtet und damit diese emotionale Seite des Menschen ignoriert. Das Gleiche passiert, wenn man auch die Sorge um das Wohlergehen künftiger Generationen in den Begriff der Solidarität hineinpackt. Wo alles als Solidarität verkauft wird, herrscht mit der Zeit keine Solidarität.

Zweitens höhlt man die Solidarität aus, wenn man sie nicht verantwortungsethisch fundiert. Die Kapazität der Menschen zur Solidarität ist begrenzt. Wenn man den Menschen unter dem Schlagwort der Solidarität mehr und mehr abverlangt, ist das eine Überforderung. Deshalb muss, um nur ein Beispiel zu nennen, die Solidarität mit Flüchtlingen ihre Grenze an der wirtschaftlichen, vor allem aber an der gesellschaftlichen Aufnahmefähigkeit eines Landes finden. Alles andere ist blosser Übermut und beschädigt die Hilfsbereitschaft einer Bevölkerung. Es dient gerade nicht der Solidarität.

Sozialer Ausgleich ist nicht gleich Solidarität

Drittens ist es Etikettenschwindel, wenn obligatorisches Tun solidarisch genannt wird. Solidarität muss von unten wachsen. Nur was freiwillig geschieht, ist solidarisch. Staaten, die notleidenden Ländern oder schwachen Teilen innerhalb des eigenen Landes helfen, tun dies immer mit dem Geld von Steuerpflichtigen. Die starke Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen, sosehr sie unter dem Titel des sozialen Ausgleichs vernünftig sein mag, hat nichts mit Solidarität zu tun.

Hingegen kommt Solidarität zum Ausdruck, wenn reiche Menschen als Mäzene Wissenschaft, Kultur, Sport und Soziales unterstützen. Solidarität ist daher kein Gegensatz zum Liberalismus und zum Individualismus, im Gegenteil: Es sind immer einzelne Menschen, manchmal wenige, manchmal viele, die mit ihrem eigenen Einsatz mit anderen solidarisch sind.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-banalisierung-der-solidaritaet-ld.1720315

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