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Liberale misstrauen der Gewissheit

(Nzz.ch, 15.11.2022)

Zweifel, Skepsis und die Einsicht, dass alles Wissen brüchig ist, gehören zu den Ingredienzen des Liberalismus. In den Diskussionen über die Klimapolitik, die Pandemiebekämpfung oder die schweizerische EU-Politik sieht man, wohin zu viel überzeugte Gewissheit – hüben und drüben – führt, nämlich zu Radikalisierung, Intoleranz, Aktivismus ohne Mass und Gesprächsverweigerung.

Gerhard Schwarz

Meine Kolumne über den Zufall hat mir neben viel Lob auch Kritik eingebracht. Einige hielten – unter Verweis auf Voltaire – meinem Wohlwollen gegenüber dem Zufall entgegen, dass nichts ohne Ursache sei. Tatsächlich ging es mir um die Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit des Geschehens. Viele Faktoren können höchstens im Rückblick als Ursachen eines Ereignisses begriffen werden, andere Ursachen sind nicht einmal im Rückblick erkennbar. Oft ist ein Geschehen zu komplex, oder die Einflussfaktoren sind jeder für sich absolut minim in ihrer Wirkung.

In der Chaostheorie kennt man den Schmetterlingseffekt, wonach ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings an einem Punkt der Erde das Wettergeschehen auf der anderen Seite des Globus beeinflussen kann.

Der Respekt gegenüber dem Zufall geht einher mit intellektueller Bescheidenheit und der Absage an übertriebene Gewissheit. Donald Boudreaux, Professor für Ökonomie an der George Mason University, hat dieser Tage in einer Kolumne die Ungewissheit gar als grösstes Geschenk des Liberalismus bezeichnet. Tatsächlich stellt der Glaube, man befinde sich im Besitz von Wissen und Wahrheit, eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben dar.

Andersdenkende als Ignoranten

Wer behauptet, etwas zu wissen, toleriert keine Abweichungen von diesem «Wissen», hält jede Debatte für sinnlos, betrachtet Andersdenkende als Ignoranten, die er bestenfalls mitleidig belächelt, im schlimmsten Fall aber mit Hassreden überzieht und mundtot zu machen versucht, weil sie den «richtigen» Weg gefährden.

Absolute Gewissheit führt zu Radikalisierung. Sie befeuert die Leidenschaft. Alle, die meinen, zu wissen, dass die Klimaerwärmung die Menschheit zerstört, kennen in ihrem zivilen Ungehorsam kaum Grenzen und haben kein Verständnis für jene, die die Panik nicht teilen und für vorsichtiges Abwägen plädieren. Umgekehrt unterstellen jene, die grosse Teile der Klimaforschung für falsch und einseitig halten, den Klimaforschern politische oder private Interessen und würden sie am liebsten von ihren Lehrstühlen entfernen.

Impfverweigerer als Verbrecher

Genauso in der Pandemie: Jene, die überzeugt waren, dass Abermillionen Menschen an Corona sterben würden, wenn die Regierungen nicht mit Impf- und Maskenpflicht sowie Lockdowns hart durchgreifen, hielten Skeptiker und erst recht Impfverweigerer für asoziale Verbrecher. Auf der Gegenseite geht man heute sogar so weit, in den Corona-Massnahmen eine Diktatur zu sehen und die Regierungen vor den Richter zerren zu wollen. Und in der EU-Debatte werfen sich die Lager gegenseitig mit harten Bandagen vor, das Wohlergehen der Schweiz aufs Spiel zu setzen.

Die Beispiele zeigen die zerstörerische Kraft der Gewissheit. Das liberale Gegengift ist die Skepsis, verbunden mit der Einsicht, dass alles Wissen temporär und immer der Möglichkeit der Falsifikation ausgesetzt ist. Das spricht gegen die notorische Gewissheit der «Wissenden», nicht aber gegen starke Überzeugungen, solange diese mit Selbstzweifel gepaart sind. Liberale schliessen nichts vom Zweifel aus, nicht die Religion, nicht die Wissenschaft, nicht den Staat – und auch nicht sich selbst.

Gerhard Schwarz war Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion und ist heute Präsident der Progress Foundation.

Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/gerhard-schwarz-liberale-misstrauen-der-gewissheit-ld.1712128

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