Zum Inhalt springen

Manipulation ist heikler als Zwang

(Finanz und Wirtschaft – MEINUNGEN)

Um das Verhalten der Menschen zu lenken, kann der Staat verbieten oder gebieten. Doch solcher Zwang stösst politisch auf Widerstand. Deshalb setzt die Verwaltung auf manipulatives «Nudging». Ein Kommentar von Markus Saurer.

MARKUS SAURER

Vor kurzem konnte ich mich in einem interdisziplinären Kolloquium der Progress Foundation mit dem Paternalismus auseinandersetzen. Mit paternalistischem Regulieren soll die Handlungsfreiheit von Betroffenen zu ihrem eigenen Wohl eingeschränkt werden. Eltern bringen ihre Kinder unter mehr oder weniger Zwang dazu, ordentlich zu lernen, genügend zu schlafen, gesund zu essen und von Suchtmitteln Abstand zu nehmen. Diese Erziehung ist nicht umstritten, da Kinder noch lernen müssen, was für sie selbst gut oder schlecht ist. Sehr umstritten sind hingegen staatliche paternalistische Regeln für Erwachsene. Sie werden von den Adressaten oft nicht als Hilfe zur Selbsthilfe, sondern als Bevormundung wahrgenommen.

Viele Leute scheinen sich selbst zu schaden – aus Nichtwissen, Willensschwäche oder Unvernunft. Sie riskieren ihre Gesundheit und verkürzen ihre Lebenserwartung durch schlechte Ernährung, Schlafmangel, Suchtmittel, ungeschützten Sex und andere gefährliche Tätigkeiten. Sie vernachlässigen die Weiterbildung und schmälern dadurch ihr Erwerbspotenzial.

«Nur falls aus riskanten Tätigkeiten Schäden für Dritte zu erwarten sind, soll der Staat eingreifen.»

Wohlbefinden ist Privatsache

Trotz individueller Laster und Risikoverhalten hat der grosse liberale Denker John Stuart Mill schon 1859 in seiner wegweisenden Abhandlung «On Liberty» dem staatlichen Paternalismus eine klare Absage erteilt. Weil der Staat keinesfalls wissen könne, wie es um das individuelle, rein subjektive Wohlbefinden stehe und wovon es abhänge, sei es weder möglich noch sinnvoll, Individuen zu ihrem Glück zwingen zu wollen. Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit seien nur nötig, soweit sich sonst erhebliche Nachteile für Dritte ergeben würden. John Stuart Mill befürwortete Vorschriften gegen Alkoholmissbrauch nur zum Schutz der Familien, die durch trunksüchtige Väter in existenzielle Nöte gebracht wurden.

Die Verhaltensökonomik will nun aber belegt haben, dass Individuen oft auch aus ihrer subjektiven Sicht ihren eigenen Präferenzen zuwiderhandeln. Sicher, ein an Lungenkrebs erkrankter Raucher wünschte sich, nie geraucht zu haben. Die Spielerin, die das Casino um 1000 Fr. «erleichtert» verlässt, wäre froh, dort (zumindest an diesem Abend) nie eingetreten zu sein. Und manch einer dürfte in der Badesaison immer wieder den Vorsatz fassen, künftig im Winter weniger Kalorien zu sich zu nehmen. Doch folgt aus subjektiver Reue beim Eintreten von Risiken, dass die Individuen vermehrt oder ganz auf riskante Verhaltensweisen verzichten möchten, dies aber aus irgendwelchen Persönlichkeitsdefekten einfach nicht selbst schaffen, weshalb ihnen der Staat paternalistisch zu Hilfe kommen sollte? Wohl kaum. Riskante Verhaltensweisen dürften für viele Individuen durchaus einen Nutzengewinn ergeben, sodass sie aus subjektiver Sicht vernünftigerweise das Risiko in Kauf nehmen wollen. Nur soweit aus den riskanten Tätigkeiten Schäden für Dritte (externe Kosten) zu erwarten sind, sollte der Staat eingreifen – und nur zur Vermeidung dieser Schäden.

Trotz dieser Einwände setzen sich verhaltensökonomisch geschulte «Sozialingenieure» für paternalistische Regulierungen ein, bei denen sie auch ein Wort mitreden sowie ihren Marktwert steigern können. Unter den Bürgerinnen und Bürgern zeigen sich vor allem Nichtbetroffene (Nichtraucher) um das Wohl von Betroffenen (Rauchern) besorgt, während diese paternalistische Zwänge zu ihrem eigenen Wohl meist ablehnen. Auch Liberale pochen auf individuelle Freiheit und Eigenverantwortung und lehnen staatliche Bevormundung ab.

Im bahnbrechenden Aufsatz «Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron» (2003) sowie mit ihrem Bestseller «Nudge» (2008) schlugen der Jurist Cass R. Sunstein und der Ökonom Richard H. Thaler, die beide in Chicago lehrten, eine genial einfach anmutende Brücke vom Paternalismus zum Liberalismus: Der Staat solle nur mit Aufklärung und mit einem verhaltensökonomisch «ausgeklügelten» Entscheiddesign die Individuen auf den Pfad ihrer «wahren» Präferenzen lenken oder «stupsen» («to nudge»), ihnen dabei aber die volle Wahlfreiheit belassen.

Viel Fantasie für das «Stupsen»

In der heutigen Praxis wird diese durchaus liberal konstruierte Form des staatlichen Anstupsens schon sehr häufig angewendet. Warnhinweise auf Zigarettenpackungen werden mit abschreckenden Bildern verstärkt. Bald wird wohl die gesamte Packung vom «Gruselkabinett» bedeckt sein. Sie könnte mit Füllstoff noch grösser und unhandlicher gemacht werden und so noch mehr Anstupsfläche bieten. Und bald könnte ein Chip den Raucher beim Öffnen der Packung vorwurfsvoll fragen: «Wollen Sie jetzt wirklich schon wieder eine Zigarette rauchen?» Auch im Nahrungsmittelbereich gibt es Anstupser, etwa um Konsumentinnen und Konsumenten von Fett, Salz und Zucker (Zucker 0.18 +2.19%) wegzulotsen (obwohl die Schädlichkeit von Fett und Salz wissenschaftlich notorisch umstritten ist).

Derzeit wird in Erwägung gezogen, Fleischpackungen mit Bildern von tierquälerischer Massentierhaltung zu versehen. Öffentliche Kantinen werden dazu verpflichtet, private ermuntert, fleischlose und andere «gesunde» Speisen besonders verkaufsfördernd zu positionieren und fleischlose Tage in ihren Wochenplan aufzunehmen. Auf Formularen zur Auswahl zwischen verschiedenen Energieprodukten der Gas- oder Stromversorgungsmonopole werden die teuersten «ökologischen» Angebote als die üblichste Wahl dargestellt (Default Option). Wer das umfangreiche Formular nicht sorgfältig liest, merkt nicht, dass es noch günstigere Alternativen gibt.

Diese Beispiele zeigen erstens, dass der Fantasie staatlicher Behörden und Unternehmen zur «liberalen» paternalistischen Beeinflussung von Bürgerinnen und Bürgern im Sinne von Sunstein und Thaler offenbar kaum Grenzen gesetzt sind. Die Anwendungsbereiche nehmen zu und werden komplexer, vom einfachen Suchtverhalten (Rauchen) über den Konsum angeblich schädlicher Nahrungsmittelbestandteile (Salz, Fett, Zucker) bis hin zu angeblich ungesunden Essgewohnheiten (fleischlastige Küche).

Paternalismus ohne Legitimation

Die paternalistische Zielsetzung, die immerhin noch das – angenommene – individuelle Wohl der Beeinflussten im Auge hat, kann ergänzt oder ersetzt werden durch umwelt-, sozial-, energie- und andere politische Ziele. Zur Beeinflussung oder Manipulation von Bürgerinnen und Bürgern zugunsten von Partikularinteressen fehlt nur noch ein Schrittchen.

Die Beispiele lassen zweitens vermuten, dass die Intensität der Beeinflussung gesteigert wird, bis trotz Wahlfreiheit die erwünschte Wirkung resultiert. Wenn bereits viele Individuen ansprechen, steigt die potenzielle demokratische Unterstützung, um noch nicht einsichtige Individuen letztlich mit Zwang auch noch einzubinden. Staatliche Beeinflussungen mit Wahlfreiheit der Betroffenen sind im politischen Prozess gewiss weniger umstritten als Verbote und Gebote oder Abgaben und Subventionen mit vergleichbarer Zielsetzung.

Eine anfängliche «Nützt es nichts, so schadet es auch nichts»-Gleichgültigkeit des Parlaments droht eine Manipulations- und Regulierungsspirale der Exekutive auszulösen. Ausgerechnet die liberale Komponente der Wahlfreiheit bei Sunstein und Thaler scheint der Kristallisationspunkt dieser Gefahr zu sein. Man setzt sich für oder gegen Zwänge ein – scheinbar schwache Manipulationen überlässt man dem Bundesrat und vor allem der Bundesverwaltung.


Zum Autor
Markus Saurer ist selbständiger Ökonom und geschäftsführendes Vorstandsmitglied im Carnot-Cournot-Netzwerk für Politikberatung in Technik und Wirtschaft.

Quelle: https://www.fuw.ch/article/manipulation-ist-heikler-als-zwang/

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert